Reflexionen zwischen Faszination und Überforderung
Ich überlege jetzt seit einiger Zeit, wie ich der Diskussion um Künstliche Intelligenz in der Schule auf meinem Blog begegnen möchte. Vieles geht mir aktuell zu schnell, insbesondere die Geschwindigkeit, mit der neue Tools seit der Veröffentlichung von ChatGPT am 30. November 2022 auf den Markt kommen. Überdies machen mich die nicht abreißenden „Erfolgsberichte“ der generativen KI-Systeme sprachlos. So meldet z.B. der BR im Mai 2023, dass ChatGPT das bayerische (!) Abitur bestanden hat – und das nach nur wenigen Updates in der Version GPT 4.0[1]. Gleichzeitig eröffnet OpenAI einen Plugin-Store für ChatGPT Plus-Nutzer*innen, der den Chatbot anschlussfähig für verschiedenste Anwendungsgebiete und IT- Dienste anderer Anbieter macht[2]. Gefühlt potenzieren sich die Möglichkeiten in dieser Kombination aus Performanzsteigerung und Einsatzdiversität von Woche zu Woche. Sprachmodelle werden über kurz oder lang zu digitalen Supertools.
Es ist kaum möglich, mit den Entwicklungen Schritt zu halten
Angesichts dieser Entwicklungen fühlt es sich an, als wären wir Zeugen der nächsten technischen Revolution, zu der wir uns (auch) im pädagogischen Kontext verhalten müssen. Das tun viele Lehrkräfte, indem sie sich fortbilden und mit der neuen Technologie experimentieren – begleitet von einem emotionalen Wechselspiel aus Faszination und Staunen auf der einen, und Unbehagen und Überforderung auf der anderen Seite. In den Diskussionen zeigt sich, dass es zum jetzigen Zeitpunkt nur bedingt möglich ist, mit den technischen Entwicklungen Schritt zu halten und die Potenziale adäquat für den Bildungsbetrieb zu reflektieren. Und auch wenn die Dringlichkeit mancher Themen jetzt besonders deutlich wird (Stichwort Prüfungskultur) kommt mir das hektische Anstimmen von Notenabschaffungsdiskussionen und Gerechtigkeitsbedenken nur wie ein voreiliger Versuch vor, die Deutungshoheit in unruhigen Zeiten nicht zu verlieren.
Zu welchem Bild formt es sich?
Ganz ohne „fertige“ Erkenntnisse habe ich meine Veröffentlichungen deshalb auf einige Social Media Posts und einen Satz Fortbildungsfolien begrenzt, mit dem in die Nutzung von ChatGPT im eigenen Kollegium eingeführt werden kann (siehe hier)[3]. Ich hielt es für sinnvoll, in dieser Beobachterposition meine Gedanken dahingehend zu strukturieren, wo generative KI als neue Technologie an meinen bisherigen Überlegungen zu Schule und Unterricht andocken kann. Dabei erscheinen mir (vorerst) die folgenden Aspekte bedeutsam: Wie kann mich künstliche Intelligenz als Lehrkraft entlasten und meine Schülerinnen und Schüler beim Lernen unterstützen? Wie kommen wir von (notwendiger) Spielerei zu substanziellen Verbesserungen im Unterricht? Und: Welche Herangehensweise an Schule, Unterricht und Lernen braucht es, damit KI nicht als Störfaktor des Systems wahrgenommen wird, sondern allen Beteiligten wirklich nützen kann?
So langsam klärt es sich
Um diesen Fragen nachzugehen, lohnt es sich, die Perspektive zu weiten und den Bildungsauftrag, der sich aus der Verfügbarkeit von KI-Tools ergibt, ins Zentrum der Überlegungen zu stellen. Damit ist gemeint, dass KI angesichts der rasanten Entwicklungen am besten schnellstmöglich Teil der schulischen Medienerziehung werden sollte. Schüler*innen müssen in der Schule lernen und verstehen können, was maschinelles Lernen ist, wie generative KI funktioniert und welche wirtschaftlichen, politischen, ethischen und gesellschaftlich-kulturellen Dimensionen zu diesem Thema gehören.
Um ein Verständnis dieser Wahrscheinlichkeitsmaschinen zu bekommen, ist es aber auch notwendig, Sprachmodelle im Unterricht zu erproben. Dazu braucht es datenschutzkonforme und unter pädagogischer Begleitung eingesetzte Tools, mit denen Schüler*innen experimentieren können. Entweder, indem sie KI-Tools aktiv zur Unterstützung des eigenen Lernprozesses nutzen oder indem sie künstliche Intelligenz in adaptiven Lernsystemen für sich arbeiten lassen.
Lernen durch neue Workflows
Die bei der Nutzung von ChatGPT (oder Bing, SchulKI, fobizz Tools…) entstehenden Workflows (z. B. neues „Suchverhalten“ im Netz, neue Routinen bei der Erstellung und/oder Überarbeitung von Textentwürfen etc.) können dann gemeinsam reflektiert und optimiert werden. Gerade hinsichtlich der sogenannten Prompts (= Eingaben oder Instruktionen für die verwendete KI) sind Lehrkräfte und Schüler*innen gleichermaßen Lernende, die ihre Erfahrungen teilen, kritisch bewerten und ihre Ergebnisse gemeinsam verbessern können. Das Prompt Engineering (Gestalten mittels Instruktionen und Texten) steckt zwar in den Kinderschuhen, lässt aber gerade bei kombinierten Eingaben von Befehl und „Datenbeigaben“ (Text, Internetquelle, Videotranskript etc.) einiges an Potenzial erahnen – allen voran, dass KI-Workflows z. B. durch automatisierte Verfahren zur Erstellung von Differenzierungs- oder interaktiven Übungsmaterialien wesentlich zur Entlastung von Lehrkräften beitragen können. Aber auch Schüler*innen können mit Hilfe generativer KI selbstständiger lernen, indem sie zum Beispiel einen unverständlichen Text per Texterkennung ihrer Smartphone-Kamera fotografieren und ChatGPT (oder …) um eine einfachere Erklärung bitten.
Besonders hervorheben möchte ich die Möglichkeiten des Einsatzes von KI als persönliche Lernassistenz. Sprachmodelle wie ChatGPT können hierbei mit Hilfe von vorbereiteten und mehrstufigen Eingaben, sogenannten Mega-Prompts, als adaptive Tutorsysteme zur individuellen Lernbegleitung eingesetzt werden. Neben der Erzeugung pseudo-authentischer Lernsituationen, z.B. bei Dialogen mit fiktiven Personen, können Sprachmodelle zu Trainingspartnern werden, die Arbeitsaufträge geben, Quiz-Fragen stellen, Feedback geben und bei Bedarf weiterführende Informationen nachliefern (spannende Ansätze finden sich z. B. bei Hauke Pölert).
Warum noch lernen?
Jenseits dieser Erfahrungsräume, die durch Effizienzsteigerung und erweiterte didaktische Möglichkeiten gekennzeichnet sind, sollten wir mit unseren Schülerinnen und Schülern auch reflektieren und diskutieren, warum sie lernen sollen, was die Maschine besser kann (Beat Döbeli Honegger[4]), und das nicht nur aufgrund bevorstehender Prüfungen. Lehrkräfte müssen Sinn- und Begründungszusammenhänge deutlicher machen denn je, sodass Lerninhalte eine persönliche Relevanz erlangen können. Wenn das gelänge, müssten KI-Tools auch nicht verbannt werden – der Kampf gegen die Verführung der arbeitserleichternden Sprachmodelle ist ohnehin nicht zu gewinnen. Im Gegenteil, sie können im richtigen Setting unterstützend und produktivitätssteigernd zum Einsatz kommen, z. B. bei kompetenzorientierten und kreativen Aufgabenstellungen und sogar bei Prüfungsformaten, bei denen der Einsatz solcher Unterstützungssysteme erprobt wird.
Fünf Dimensionen für den Unterricht
Und zuletzt erscheint es mir notwendig, dass schulisches Lernen weiterhin und vielleicht noch bewusster Lerngelegenheiten ermöglicht, die nicht von technischen Hilfsmitteln, Datenverarbeitung und Bildschirmen geprägt sind. In denen es um Begegnung, Zusammenarbeit, Kommunikation, physisches Erleben, Draußen-Sein, etwas erschaffen, Herausforderungen bewältigen, sich bewegen oder die Natur spüren geht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass diese Dimension im Unterricht angesichts neuerer KI-Tools noch mehr an Bedeutung gewinnt und ein basales Bedürfnis von Kolleg*innen und Lernenden berührt. Sozusagen als Kontrapunkt zum postdigitalen Verschmelzen zwischen Mensch und Maschine, bei dem wir deutlich machen, was uns menschlich macht. Und was die KI eben nicht kann.
Für Schule, Unterricht und Lernen ergeben sich daraus fünf Dimensionen, die aus meiner Sicht zu bearbeiten sind. Es geht darum, Lerngelegenheiten über, mit und durch KI zu initiieren – um Schüler*innen bestmöglich beim Lernen zu begleiten und sie beim Aufbau von Medienkompetenz in einer unübersichtlichen Welt zu unterstützen. Es geht aber auch um Lerngelegenheiten trotz und ohne KI, mit denen wir die Grenzen der Maschinen markieren und Bildungsprozesse aktiv und eigenverantwortlich gestalten – auch wenn einiges auf den ersten Blick nicht mehr notwendig erscheint. [Die fünf Dimensionen für den Unterricht sind hier auch noch ausführlicher beschrieben. Darüber hinaus kann die Grafik “Lernen und KI” in verschiedenen Versionen heruntergeladen werden, u.a. auch in englischer Sprache.]
Was bedeutet das für die Schulentwicklung?
Ich bin mir noch nicht im Klaren darüber, was all diese Entwicklungen für die Schulentwicklung bedeuten, welche Prozesse jetzt wie anzustoßen sind und wie sich die Schulentwicklungsarbeit vielleicht auch selbst ändern wird. Es erscheint mir aber sinnvoll, auf erprobte Konzepte der digitalen Schulentwicklung, (Mikro-SchiLf-Reihen, Good-Practice-Sammlungen, Medienkonzeptarbeit, Reflexion medienbezogener Kompetenzen für Lehrkräfte und Lernende etc.) zurückzugreifen. Dazu gehört natürlich auch, Künstliche Intelligenz im Rahmen der schulischen Möglichkeiten zu erproben und neue Workflows zu testen, z.B. auch als Planungshilfe für Schulentwicklungsprozesse. Und dazu gehört es, den Wettbewerb der guten Ideen zu eröffnen, wie Schulen hinsichtlich tradierter Hausaufgabenkonzepte und überholter Prüfungsformate neue und sinnvolle Wege in einer KI-geprägten Welt gehen können, auch wenn sich die Ansprüche an Lehren und Lernen noch einmal erhöhen und die Aufgabenfülle für Schulen möglicherweise weiter zunimmt.
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P.S.: Schlussendlich bleibt noch das Unbehagen zu ergänzen, wie sich Künstliche Intelligenz in den nächsten Jahren entwickeln wird und wie lange diese technologischen Möglichkeiten noch reflektierbar und kontrollierbar sein werden. Ich vermag dabei nicht zu beurteilen, wie gefährlich diese Entwicklungen sind und ob sich die Maschinen mit einem programmierten Bewusstsein irgendwann gegen uns Menschen richten könnten. Aber es erscheint mir plausibel, dass maschinelles Lernen für kriminelle Zwecke, zur Kontrolle und Überwachung und für Angriffe gegen Demokratie und Freiheit eingesetzt werden. Das schmälert nicht die Notwendigkeit unseres Bildungsauftrags, doch ich frage mich, ob wir mit trainierten Sprachmodellen eigentlich auf eine bessere und erstrebenswertere Welt zusteuern oder nicht. Möglicherweise besteht die eigentliche Herausforderung darin, Potenziale und Risiken immer wieder auszutarieren – auch in der Schule. Aber vielleicht kann und sollte auch das Thema von Fortbildungen und Unterrichtsreihen zur Künstlichen Intelligenz sein.
[1] https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/chatgpt-ki-besteht-bayerisches-abitur-mit-bravour,TfB3QBw
[2] https://openai.com/blog/chatgpt-plugins
[3] Andere sind näher am Puls an der Zeit und beeindrucken durch regelmäßige Posts und Veröffentlichungen. Zu nennen sind hier z.B. Hauke Pölert, Patrick Bronner, Manuel Flick, Hendrik Haverkamp und Beat Döbeli Honegger.
[4] http://blog.doebe.li/Blog/WarumSollIchLernenWasDieMaschineBesserKann
Grafik 3 wurde mit dem Microsoft Image Creator erstellt.
Hilfreiche Links
Eine wirklich empfehlenswerte Sammlung der PH Zürich zu KI-Tools für zahlreiche Anwendungsgebiete findet sich hier.
Wer Unterrichts-Materialien über KI und Anregungen zur eigenen Weiterbildung sucht, kann auf eine Sammlung der Technischen Universität Dresden zurückgreifen und wird hier fündig.
Fortlaufend aktualisierte Überlegungen der Pädagogischen Hochschule Schwyz rund um ChatGPT und dadurch angestoßene Herausforderungen für die Schule können hier nachgelesen werden.
Veröffentlicht am 21. Juni 2023
Hallo,
ich habe diesen Artikel in das Quality Gate zum Thema: Modernisierung der Bildung, aufgenommen (https://marius-a-schulz.de/2024/07/17/quality-gate-modernisierung-der-bildung/ ). Ein Quality Gate ist eine Linksammlung zwecks Empfehlungen.
Grund für die Aufnahme ist die Beleuchtung der momentanen Disruption und der kritischen Erörterung von aktuellen Fragestellungen.
Grüße,
Marius A. Schulz.
Guten Tag
ChatGPT ist weder künstlich noch intelligent, sondern von Menschen erschaffene, gewaltige Rechenleistung. ChatGPT sollte eigentlich “Wahrscheinlich” heissen. Wer nicht-argumentative Informationen verfizieren/falsifizieren kann, kann ChatGPT nutzen. Für Bildung, Schule und Lernen ist ChatGPT darum irrelevant, weil einzig Lösungen ohne Hilfsmittel zeugnis-relevant bewertet werden.
Guten Morgen,
ich gehöre nicht zur Schulfamilie, muss mich berufsbedingt ständig weiterbilden (freiwillig und gerne). Die Fragestellungen sehe ich auch beim “lebenslangen Lernen” im Beruf. Es geht um einen gesamtgesellschaftliche Diskurs. Ihr Beitrag (leicht modifiziert) passt auch für andere Gruppen. Wir sind alle Lehrende und Lernende.
Grüße aus Schwabach
Top!