Widersprüche im Umgang mit Künstlicher Intelligenz in der Schule
Während KI-Systeme das Potenzial haben, Lernprozesse zu verbessern und Lehrkräfte zu entlasten, treten im Schulalltag paradoxe Effekte auf: Entlastung, Kompetenzen, Motivation und einige andere Bereiche stehen in einem oft widersprüchlichen Verhältnis zu den Erwartungen.
Mit Blick auf diese Widersprüche wird mir zunehmend klarer, warum es so schwierig ist, KI „in die Fläche“ zu bringen. Ob wir sie auflösen können, vermag ich derzeit nicht zu beurteilen. Möglicherweise ist es ein Teil des kollektiven Lernprozesses, mit den folgenden Paradoxien umzugehen bzw. sie zumindest auszuhalten.
Neun schulbezogene KI-Paradoxien
1) Das Entlastungsparadoxon: Ohne Frage können KI-Systeme dazu beitragen, Lehrkräfte in vielerlei Hinsicht zu entlasten. Gleichzeitig tritt dieser Effekt nur ein, wenn eine gewisse Einarbeitungsleistung vollbracht wird. Diese kommt als on-top-Aufgabe und zusätzliche Belastung zu anderen Verpflichtungen hinzu und wird deshalb häufig aufgeschoben oder abgelehnt. Letztlich muss man erst über den Berg drüber, bevor man den neuen Horizont erblickt.
2) Das Kompetenzparadoxon: Lehrkräfte und Schüler*innen benötigen ein hohes Kompetenzniveau (sprachliche Fähigkeiten, Prompting, kritisches Denken etc.), um KI-Systeme sinnvoll und zielführend einsetzen zu können. Gleichzeitig werden verschiedene Fähigkeiten erst entwickelt, wenn die entsprechenden Systeme aktiv genutzt und Routinen entwickelt werden. Ein Nacheinander ist mit Blick auf die vielschichtigen KI-Kompetenzen nur schwer vorstellbar.
3) Das Toolparadoxon: Lehrkräfte wissen, dass es nicht auf einzelne KI-Werkzeuge ankommt. Entscheidend sind vielmehr der sich wandelnde Bildungsauftrag, Zukunftskompetenzen und das Lernen in einer von KI-geprägten Welt. Gleichzeitig ist der Diskurs überwiegend vom „jetzt kann KI …“ – Charakter geprägt. Wir müssten mehr über Lernen reden, benötigen aber Werkzeuge, um Bildung und Lernen in neuer Weise zu erschließen.
4) Das Kooperationsparadoxon: Lehrkräfte wie Schüler*innen finden die Arbeit mit KI entlastend, gewinnbringend und sinnvoll für verschiedenste Einsatzgebiete (Vorbereitung, Lernen, Aufgabenbewältigung etc.). Gleichzeitig gelingt die gemeinsame Akzeptanz im Unterricht an vielen Stellen nicht. Misstrauen und Skepsis verhindern, dass Co-Konstruktionsprozesse mit KI als kollektive Arbeitsweise zur Gewohnheit werden. Im schlimmsten Fall führt das dazu, dass Schüler*innen die Nutzung von KI verschleiern, um sich nicht dem Vorwurf des Betrügens aussetzen zu müssen. Auf der individuellen Ebene findet Kooperation statt, doch letztlich bleibt jeder in seiner Sphäre gefangen.
5) Das Motivationsparadoxon: KI-Systeme können die Motivation von Schüler*innen steigern, indem sie personalisierte Unterstützung, sofortiges und individuelles Feedback und flexible Lernumgebungen bieten. Gleichzeitig kann der Einsatz von KI zu einer abnehmenden Eigeninitiative führen (Skill Skipping), möglicherweise sogar zu Kompetenzabbau (Deskilling) und/oder einem Gefühl der Abhängigkeit von der Technologie. Während KI das Lernen erleichtert, wird die intrinsische Motivation, sich Herausforderungen eigenständig zu stellen, möglicherweise abgeschwächt.
6) Das Gerechtigkeitsparadoxon: KI-Systeme bieten Chancen für mehr Bildungsgerechtigkeit, da sie in weiten Teilen kostenfrei und unabhängig vom Elternhaus zur Verfügung stehen, um Lernende individuell zu fördern. Gleichzeitig profitieren hauptsächlich diejenigen davon, die über ein höheres Bildungsniveau verfügen und die Systeme für sich – dank entsprechender Kompetenzen – zu nutzen wissen. KI wirkt dabei als ein weiterer Verstärker. Die einen ziehen mit zahlreichen individuellen Entfaltungsmöglichkeiten davon, während die anderen noch weiter abgehängt werden.
7) Das Geschwindigkeitsparadoxon: Betrachtet man das Tempo der KI-Innovationen müsste sich das Bildungssystem in kürzester Zeit und auf verschiedenen Ebenen an die neuen Gegebenheiten anpassen. Gleichzeitig benötigen Anpassungsprozesse der Institution Schule Jahre und mitunter auch Jahrzehnte, bis Infrastruktur und Knowhow aufgebaut werden. Die Zeit, die für hierfür benötigt wird, steht jedoch nicht zur Verfügung, sodass Bildungseinrichtungen mit veralteten Systemen und überholten Konzepten arbeiten müssen, obwohl neue und fortschrittlichere Technologien verfügbar wären.
8) Das Administrationsparadoxon: Die Ebenen der Bildungsadministration erkennen die Notwendigkeit, dass Schulen auf die Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz reagieren müssen. Gleichzeitig gelingt es nicht in ausreichender Form, Schulen mit der nötigen Infrastruktur, mit Zugängen zu datenschutzkonformen KI-Tools und/oder Anpassungen im Prüfungsrecht auszustatten. Starre Verwaltungsstrukturen stehen dem Einsatz von KI entgegen, obwohl genau dieser gefordert wird.
Und zuletzt …
9) Das Erkenntnisparadoxon: Verständlicherweise wünschen sich viele Beteiligte valide Forschungsergebnisse, die zeigen, welcher KI-Einsatz in welcher Weise wirksam ist. Gleichzeitig lassen sich diese Erkenntnisse nur anhand von Untersuchungen einer bereits veränderten Praxis (rückwirkend) generieren. Um neue Evidenzen zu erhalten, sind wir gezwungen, ohne forschungsgeleitete Orientierung auszuprobieren und neue Felder des Lehrens und Lernens zu erkunden.
Was fangen wir mit diesen Erkenntnissen an?
Zum Wesenskern von Paradoxien gehört, dass die tatsächlichen Gegebenheiten im Widerspruch zu bestehenden Ansprüchen stehen. Das ist mit Blick auf die Schule nichts neues und muss auch an anderen Stellen ausgehalten werden. Ähnliche Spannungsfelder bestehen beim Bemühen um individuelle Förderung und der häufig standardisierten Bewertungspraxis an Schulen. Messinstrumente stehen zudem oft im Widerspruch zu modernen Bildungszielen und auch mit Blick auf Chancengleichheit ist allen Lehrkräften klar, dass die Schule häufig eher Ungleichheiten verstärkt als diese auszugleichen.
Doch während wir uns an diese Widersprüche gewöhnt haben, verhält es sich mit KI-Disruption anders. Nimmt man die technischen Entwicklungen ernst, können wir nicht mehr einfach in der Art und Weise weiterarbeiten, wie wir es bisher gemacht haben. Künstliche Intelligenz verändert als niedrigschwelliges Denkwerkzeug die Art und Weise, wie wir lernen und wie mit Information umgegangen wird auf fundamentale Art und Weise. Dies zu ignorieren, führt mindestens zu einer Verschärfung der ohnehin schon bestehenden Entfremdung zwischen Lernenden und dem System Schule.
Widersprüche auflösen
Diese neuen Möglichkeiten auch in der Institution Schule kritisch zu erkunden, erfordert Mut und eine Haltung, bei der wir uns selbst als Lernende verstehen. Lernende, die gemeinsam im Kollegium und mit Schülerinnen und Schülern ausprobieren, reflektieren, kritisch bewerten und neue Wege erproben. Idealerweise geht es dabei nicht nur darum, all die beschriebenen Widersprüche auszuhalten, sondern die einzelnen Bereiche aktiv zu gestalten und unsere Rolle in einer sich verändernden Welt bewusst anzunehmen.
Gleichzeitig sind die beschriebenen Aspekte auch ein Call to Action: Auf allen Ebenen des Bildungssystems muss Bewegung entstehen, um Antworten auf die KI-bezogenen Entwicklungen zu finden. Die Analyse der Paradoxien kann dabei helfen, ein tieferes Verständnis der aktuellen Herausforderungen zu entwickeln und im besten Fall zum Auflösen der Widersprüche beitragen.
Rückmeldungen und Ergänzungen
9 + 1) Hauke Pölert hat in einem LinkedIn-Beitrag darauf hingewiesen, dass er noch ein zehntes Paradoxon sieht. Er nennt es Zielparadoxon und beschreibt es folgendermaßen: “Viele KI-affine Lehrpersonen wollen die Möglichkeiten von LLM/KI für die Weiterentwicklung offenerer Lernformen, flexiblerer Lernformate, individuellerer Begleitung und zielgerichteterer Unterstützung im Lernprozess nutzen und damit bestehende Initiativen zur Unterrichtsentwicklung stärken. Gleichzeitig kann die Technologie aber gerade im Bereich Individueller Tutorieller Lernsysteme auch dazu führen, dass mehr Überwachung und Steuerung die technokratische Perspektive auf Lernen und ein technokratisches Verständnis von Lernprozessen im Sinne optimaler Input-Output-Effizienz fördern.”
9 + 2): Ohne direkten Bezug zur Schule schreibt Isabella Buck auf ihrem empfehlenswerten Blog am 4.10.2024 über KI und Resonanz. In ihrem Beitrag diskutiert sie den Resonanzbegriff von Hartmut Rosa im Kontext aktueller KI-Entwicklungen. Aus ihrem Text lässt sich aus meiner Sicht ein Resonanzparadoxon herauslesen, auch wenn sie es nicht als solches benennt. Dieser Effekt öffnet die KI-Paradoxien für eine psychologische Dimension. Bei Isabella heißt es:
„KI-Tools bieten stets eine Antwort, können immer angepasst an unser aktuelles emotionales Erleben reagieren – z. B. im neuen Voice Mode bei GPT-4o – und bleiben dadurch verfügbar und kalkulierbar. Das könnte zwar als Resonanz empfunden werden, verändert aber den Resonanzbegriff grundlegend, weil der unberechenbare und transformative Aspekt fehlt. In der sozialen Dimension würde das bedeuten, dass sich die Funktionen von Resonanz auf ein technisch vermitteltes ‚Echo‘ reduzieren könnten. Hier stellt sich die Frage, ob das suggerierte Gefühl von Resonanz über die tatsächliche Resonanzbeziehung siegen könnte und damit die Qualität des sozialen Miteinanders verändert. Das würde letztlich Rosas Kritik an der Beschleunigungsgesellschaft vertiefen, da Resonanz immer verfügbar wäre und dadurch ihre tiefere Bedeutung als Gegenpol zur Entfremdung verlieren könnte.“
Etwas vereinfacht ausgedrückt könnte das Resonanzparadoxon folgendermaßen beschrieben werden: KI-Tools suggerieren Beziehungen, indem sie als technisches Gegenüber kalkulierbare Resonanzerfahrungen bieten. Gleichzeitig ist Resonanz dabei auf ein technisches „Echo“ reduziert. Echte Nähe fehlt – ganz zu schweigen von sozialem Miteinander. Möglicherweise führt aber die Verfügbarkeit gefühlter (und unkomplizierter) Nähe dazu, dass Menschen diese technische Resonanzillusion bevorzugen und sich die Entfremdung in der Beschleunigungsgesellschaft weiter verschärft.
Eine bildhafte Ergänzung
Martin Karacsony hat sich auf seinem Blog www.bildungssprit.de den KI-Paradoxien zudem auf bildhafte Weise genähert. In seinem Beitrag hat er teilweise zu meinen Begriffen, teilweise zu eigenen Paradoxien bildhafte Beschreibungen und auch tatsächliche Bilder entwickelt, um die einzelnen Punkte zugänglich zu machen. In seinem Fazit schließt er sich dem Call to Action an, dass sich Lehrkräfte mit den Widersprüchen auseinandersetzen sollten, um diese besser zu verstehen und aufzulösen.
Zu guter Letzt: Vielen Dank an Hendrik Haverkamp, der mich beim Überlegen und Schärfen der einzelnen Punkte unterstützt hat. Der Beitrag „KI-Paradoxien“ erscheint zeitgleich auf dem empfehlenswerten Blog von Fiete (https://www.fiete.ai/blog).
Veröffentlicht am 2. Oktober 2024
Im Grunde schwebt über alle den Paradoxien das, was ich als Trilemma aus Fortbildung, Schulentwicklung und Mangelverwaltung bezeichne. Wir brauchen jetzt Zeit, um uns fortzubilden und zukunftsfest zu machen, haben aber immer weniger davon, weil wir uns schon in einem Erosionsprozess befinden und jetzt schon kaum die Löcher stopfen können. Dazu:
https://www.schulmun.de/2024/02/08/newsletter-09-09-02-2024/
und
https://www.schulmun.de/2024/04/10/2024-12-vernetzt-die-bildung-wege-aus-dem-trilemma-aus-fortbildung-schulentwicklung-und-mangelverwaltung/
Das erlebe ich in so vielen Bereichen des Schullebens – erfolgreiche Schulentwicklung benötigt belastbare Kollegien – und die vermisst man überall. Zudem sehe ich auch das Problem, dass gerade hinsichtlich Digitalisierung der Glaube an Entlastung durch digitale Prozesse fehlt – immer wiederkehrende grundlegende technische Probleme, die aktuelle Debatte um die Sinnhaftigkeit der Digitalisierung in Schulen und ein permanenter “Update-Druck” sowohl hinsichtlich Software als auch User-Kompetenzen lassen viele KollegInnen verzweifeln. Bestes aktuelles Beispiel: Meine Schule wurde komplett mit großen digitalen Multitouch-Displays und Dokumentenkameras ausgestattet – die Einweisung für Lehrkräfte dauerte 2 Stunden und war sehr “nerdlastig” – würde behaupten die Hälfte des Kollegiums war schlicht überfordert, zudem ging es nur um die Technik. Die funktioniert aber bis heute nur in der Hälfte der Klassenzimmer zuverlässig, weil bei der Installation Fehler gemacht wurden – außerdem bräuchte es dringend zusätzliche didaktische Fortbildungen, damit eben nicht nur mit den beschreibbaren Außentafeln gearbeitet wird – klar, die könnte man intern organisieren, auch bei uns gibts die Nerds – aber die Zeit fehlt hinten und vorne und gerade ältere KollegInnen ab 45 aufwärts zeigen einem schon jetzt die Stop Hand – die hatten sich nämlich jetzt in den letzten 5 Jahren mit MS Teams und der internen Ordnerstruktur zurecht gefunden, nur um jetzt auf die BYCS umsteigen zu müssen – was ich persönlich ja begrüße – aber von Entlastung durch Digitalisierung brauche ich da niemandem zu kommen. Und das Thema KI wurde noch nicht mal angerissen…
So wird das meiner Ansicht nach nichts, außer dass verdammt viel Geld verbrannt wird.
Das erlebe ich auch und frage mich wie wir die „belastbaren“ Kollegen bekommen. Sie trauen sich nicht an die Entlastung schaffende Technologie ran, wodurch die Belastung noch höher wird. Interne Fortbildungen werden nicht angenommen, da der Begriff von Unterricht noch sehr von alten Glaubenssätzen geprägt ist.