Leitlinien für mehr digitale Souveränität in Online-Fortbildungen
Die Corona-Pandemie hat Online-Fortbildungen aus ihrem Nischendasein befreit und zum Standard werden lassen. Aufgrund zahlreicher Vorzüge ist davon auszugehen, dass Videokonferenz-Formate auch für die Zeit nach Corona gleichberechtigt neben Präsenzveranstaltungen stehen dürften. Referent*innen waren und sind daher aufgefordert, sich mit der Vorbereitung und Gestaltung von Online-Angeboten vertraut zu machen. Bereits im Herbst 2020 habe ich auf diesem Blog zahlreiche Gestaltungsmöglichkeiten für Online-Fortbildungen zusammengefasst. Da ich mittlerweile auf einige Erfahrungen im Bereich der digitalen Fortbildungsgestaltung zurückblicken kann, möchte ich die wichtigsten Erkenntnisse zum Moderieren und Aktivieren in digitalen Räumen an dieser Stelle zusammentragen.
Digitale Fortbildungsformate sind in den meisten Fällen die bessere Wahl
Grundsätzlich können digitale Live-Online-Fortbildungen ähnlich lebendig gestaltet werden und sind für die meisten Zusammenhänge ebenso oder sogar besser geeignet als Präsenzformate. Eine Ausnahme können Situationen bilden, in denen die Beziehung zwischen den Personen eine tragende Rolle spielt und/oder ein besonderes Vertrauensverhältnis durch räumliche Nähe zum Ausdruck gebracht werden soll. Ist dies jedoch nicht der Fall, können die spezifischen Vorteile der digitalen Fortbildungsgestaltung ausgespielt werden. Vorteile, die dann ausgeschöpft werden können, wenn wichtige Parameter für die Arbeit in digitalen Räumen berücksichtigt werden.
- Die Gesetze des digitalen Raumes verstehen
Digitale Räume unterliegen eigenen Gesetzmäßigkeiten. In der Regel werden sie „betreten“, obwohl die Teilnehmer*innen nicht exklusiv dort sind und sich parallel mit anderen Dingen beschäftigen können. Aus diesem Grund werden Online-Fortbildungen häufig als effektiv und zeitsparend wahrgenommen. Man kann an ihnen partizipieren, fast ohne den eigenen Alltag unterbrechen zu müssen. Diese Gleichzeitigkeit erschwert jedoch echte Begegnungen und kennzeichnet Online-Formate als gewissermaßen unverbindliche, aber auch flexible Angebote, aus denen man sich mit geringem „Invest“ Nützliches herausholen kann. Entsprechend unterschiedlich sind die Erwartungen seitens der Teilnehmer*innen. Während die einen schnellen Input „ohne Aufwand“ suchen, wünschen sich andere Austausch unter Kolleg*innen. Referent*innen können dieser Heterogenität begegnen, indem sie die Inhalte und den Ablauf der Veranstaltung von Anfang an transparent machen. Anschließend sollte versucht werden, die Gruppe auf der anderen Seite des Bildschirms im wahrsten Sinne des Wortes in die Veranstaltung zu holen.
- Möglichst schnell in den Dialog kommen
Meiner Erfahrung nach wird die räumliche Distanz am ehesten überwunden, wenn Referent*innen und Teilnehmer*innen möglichst schnell in den Dialog kommen. Mehr noch als bei bloßen Abstimmungsspielchen stellt das aktive Sprechen eine Brücke zwischen den Bildschirmen dar. Empfehlenswert sind kurze Vorstellungsrunden, Verortungsübungen auf einer Karte, digitale Aufstellungen oder Chat-Abstimmungen mit anschließender Begründung. Derartige Gesprächsrunden ermuntern überdies, die eigene Kamera zu aktivieren, aus der Anonymität herauszutreten und fördern die Vernetzung. Da die Überwindung, im digitalen Raum loszusprechen, größer ist als bei einer Präsenzveranstaltung, müssen die Verfahren klar kommuniziert sein (Wortmeldung im Chat, digitales Melden etc.). Die besten Erfahrungen habe ich jedoch damit gemacht, die Teilnehmer*innen in den Einstiegsrunden initiativ und namentlich aufzurufen. Dabei ist es wichtig, den Namen des/der Teilnehmer*in am Satzanfang zu nennen, damit diese*r ausreichend Zeit hat, das eigene Mikro zu aktivieren. Weniger direktiv aber ebenso zielführend sind Verfahren, bei denen die Moderationsarbeit an die Gruppe abgegeben wird, z.B. mit einem digitalen Redestab oder gegenseitigem Aufrufen.
- Gespräche zielführend moderieren
Bei der Moderation dieser Gesprächssituationen sollte sich der/die Referent*in darum bemühen, unklare Stille-Momente zu vermeiden. Dieses Sprechpausen-Vakuum zwischen Beiträgen erzeugt sehr schnell Unsicherheiten, immer assoziiert mit möglichen technischen Defekten. Aus diesem Grund ist eine souveräne und transparente Gesprächsleitung notwendig, mit der zu jeder Zeit klar ist, wer das Wort hat und was als nächstes kommt. Meiner Erfahrung nach bewährt es sich, häufig schon den übernächsten Schritt mitanzudeuten, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten (z.B. „Als nächstes ist Frau Schmidt an der Reihe und dann möchte ich noch einmal offen in die Runde fragen, ob es Ergänzungen gibt“). Hin und wieder kann der Stille jedoch auch bewusst „Raum“ gegeben werden, um Personen ausreichend Zeit zu geben, sich zu einer Wortmeldung zu entschließen.
Da im digitalen Raum auf sicherheitsstiftende Gestik und in weiten Teilen auch auf Mimik verzichtet werden muss, müssen diese Bereiche mit Sprache und Stimme kompensiert werden. Eine klare Aussprache sowie eine eher langsame, ruhige und unaufgeregte Stimme können in digitalen Räumen ausreichend Souveränität vermitteln. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Bedeutung der technischen Komponenten hingewiesen, insbesondere auf ein ordentliches Mikrofon.
- Interaktion sicherstellen
Damit Teilnehmer*innen über einen längeren Zeitraum aktiv dabeibleiben, benötigen digitale Formate speziell vorbereitete Interaktionsübungen und Phasen des Austausches. Damit sind alle Formen gemeint, die dazu einladen, einen Post abzusenden, an einer Abstimmung teilzunehmen, in eine Fragerunde einzutreten oder in der Kleingruppe zusammen zu arbeiten. Entscheidend sind dabei nicht die jeweiligen Tools (z.B. Mentimeter, Wooclap, Padlet, Oncoo etc.), sondern dass die jeweilige Aktivität für den Workshop/Vortrag von Bedeutung ist und dann auch damit gearbeitet wird. Meiner Erfahrung nach sollte allerspätestens nach zehn Minuten Vortrag je eine Interaktion eingeplant werden, besser noch öfter. In diesem Zusammenhang habe ich lange Zeit unterschätzt, welche Bedeutung der Chat als lebendige „Parallel-Öffentlichkeit“ einnimmt. Mittlerweile nutze ich diesen Bereich regelmäßig für Abstimmungen, kurze Statements, Brainstormings oder Bild-Zahl-Zuordnungen. Gute Erfahrungen habe ich auch damit gemacht, Verantwortung (z.B. die Betreuung des Chats) an Personen aus der Gruppe abzugeben. Darüber hinaus sollte darauf geachtet werden, Austausch-Zeiten eher großzügiger anzusetzen, um informelle Nebengespräche zu ermöglichen. Im Verlauf einer Veranstaltung können die verschiedenen Möglichkeiten entsprechend kombiniert und mit einem Feedback abgeschlossen werden.
Als alternative Herangehensweise lassen sich Online-Veranstaltungen auch nach dem Prinzip des Flipped-Classroom „umdrehen“. Die Inputphase wird dann entsprechend ausgelagert, wodurch sich der Interaktionsanteil im digitalen Raum automatisch erhöht. Mit dieser Vorgehensweise habe ich bislang nur wenige eigene Erfahrungen machen können, denke aber, dass sie zunehmend mehr Verbreitung finden wird.
- Souverän mit Technik und Tools umgehen
Trotz sinnvoller Absichten kann jede Interaktion ihr Ziel verfehlen und eine Quelle für Unruhe, Störungen im Ablauf oder unangenehme Pausen werden. In den allermeisten Fällen liegt dies jedoch nicht an der Interaktion selbst, sondern an der entsprechenden Moderationspassage. Hier gilt es im Wesentlichen zwei Aspekte zu berücksichtigen. Zum einen muss zu jedem Zeitpunkt klar sein, worin der Auftrag besteht und wo bzw. wie dieser ausgeführt werden kann. Zum anderen sollte auch der technische Weg detailliert vorgestellt werden. Für Teilnehmer*innen muss deutlich werden, wie sie sich beispielsweise zu einer Menti-Übung via QR-Code, mit einem Link im Chat oder selbst auf der Website mit einem Zahlencode einwählen müssen. Es hat sich bewährt, mehrere Verfahren anzubieten, aus denen die Teilnehmer*innen auswählen können. Hier ist es unbedingt zu vermeiden, dass Teile der Gruppe nicht wissen, was zu tun ist oder an der Übung nicht teilnehmen können, um ein mehrmaliges Erläutern für Einzelne zu vermeiden. Damit dieses Management gelingt, bedarf es auch einer gründlichen Vorbereitung seitens der Referent*innen. Hier empfiehlt es sich, die verschiedenen Tabs vorbereitet und eine große Sicherheit im Umgang mit Screensharing und dem Wechseln von Ansichten aufgebaut zu haben. Je mehr digitale Souveränität für Teilnehmer*innen spürbar wird desto eher gelingt entspanntes Arbeiten, auch bei verschiedenen, digital anspruchsvollen Interaktionsphasen wie dem Arbeiten auf einem kollaborativen Online-Whiteboard. Das heißt allerdings nicht, dass nicht auch Lehrende „Fehler“ machen oder technische Pannen haben dürfen. Derartige Momente eignen sich hervorragend, um einen souveränen Umgang mit Problemen vorzuleben.
- Miteinander diskutieren, spielen und lachen
Diese Souveränität zeigt sich beispielsweise auch dann, wenn Referent*innen die Vortragsebene verlassen und sich auf Verfahren einlassen, bei denen nicht wirklich geplant werden kann, wie sie sich entwickeln. Gemeint sind ergebnisoffene Diskussionen, angeleitete Spiele oder Präsentationen aus der Gruppe. All diese Formen erfordern einen klaren Rahmen (Zeitvorgaben, Anleitungen, Gesprächsleitfaden etc.) und gelingen nur dann, wenn Referent*innen sich auch ein Stück weit von den Ergebnissen treiben lassen bzw. auf diese spontan eingehen können. In diesem Zusammenhang soll noch einmal explizit auf digitale Gruppenspiele hingewiesen werden, die als Einstieg oder zur Auflockerung verwendet werden können. Als Interaktionsübungen können sie aber auch in digitalen Formaten einen expliziten pädagogischen Stellenwert einnehmen, bspw. zur Bearbeitung gruppendynamischer Prozesse. Eine interessante Spiele-Sammlung für digitale Formate möchte ich im folgenden Exkurs kurz vorstellen.
Exkurs: 80 Spiele fürs Live-Online-Training
Unter der Herausgeberschaft von Gert Schilling haben Praktiker*innen der Fortbildungsszene 80 Spiele fürs Live-Online-Training zusammengetragen. Diese sind Anfang 2021 vom Verlag managerSeminare veröffentlicht worden. Das Handbuch bietet auf fast 300 Seiten Spiele und Übungen, die für digitale Formate aufbereitet wurden und direkt eingesetzt werden können. Alle Interaktionsübungen sind unterteilt nach „Auflockerungsspiele“, „Lernspiele mit Hintergrund“ und „Lernspiele mit höherem Aufwand“. In einer hilfreichen Übersicht sind die Übungen auch nach Einsatzgebiet (Auflockerung, Bewegung, Kennenlernen, Kooperation, Interaktion, Feedback etc.) sortiert. Alle Spiele sind darüber hinaus mit Screenshots und organisatorischen Hinweisen versehen. Zudem findet sich bei jedem Spiel eine Spielbeschreibung, Hinweise zu Besonderheiten und mögliche Varianten.
Die dargestellten Angebote sind ausgesprochen vielseitig und reichen von Klassikern wie „Alle Vögel fliegen hoch“ über „Menschen-Memory“ bis zu „Dalli-Bildern“. Die Übungen eignen sich für Lehrkräfte, Fortbildner*innen und pädagogische Fachkräfte, die nach auflockernden Möglichkeiten für die Arbeit in digitalen Räumen suchen. Für Leser*innen stehen zusätzliche Materialien zum Download bereit.
- Zum Abschluss: Jedem Gast etwas mitgeben
Zu guter Letzt soll auf das Ende digitaler Veranstaltungen eingegangen werden. Hier sind aus meiner Erfahrung mehrere Aspekte von Bedeutung. Einerseits benötigt jede Veranstaltung ein klares Zeitlimit, das nur aus triftigen Gründen überschritten werden darf. Andererseits sollte jede Online-Fortbildung zur digitalen Weiterarbeit einladen. Hier können beispielsweise Formate aufgezeigt werden, auf die die Teilnehmer*innen auch über den Workshop hinaus zugreifen können (z.B. Padlets, Conceptboards etc.). Es empfiehlt sich aber auch, Links zum Weiterlesen vorzustellen, um die Gruppe zu motivieren, an dem vorgestellten Thema dranzubleiben. Idealerweise gelingt es, den Teilnehmer*innen etwas mitzugeben, das für deren unterschiedliche Kontexte nützlich ist. Das können z.B. Materialsammlungen, Handouts, Präsentationsdateien oder Kontaktlisten der Gruppe sein (natürlich mit deren Einverständnis).
Hier geht es direkt zum Padlet: https://padlet.com/joschafalck/xhmbqucpuxsvri9f
Es lohnt sich, am Ball zu bleiben
Die Notwendigkeit, Online-Angebote zu gestalten, hat bei Lehrkräften, Pädagog*innen und Trainer*innen zu einer raschen und umfassenden Professionalisierung geführt. Wie selten zuvor konnte man beobachten, in welch kurzer Zeit Formate des physischen Zusammenseins in digitale Räume übertragen wurden. Meiner Einschätzung nach wird diese Entwicklung noch einige Zeit und sehr dynamisch weitergehen – es lohnt sich also, sich selbst als Lernenden zu begreifen und am Ball zu bleiben. In diesem Zusammenhang möchte ich auf den lesenswerten Blog www.ebildungslabor.de meiner Kollegin Nele Hirsch verweisen. Als Pionierin auf dem Gebiet der Gestaltung von Online-Formaten stellt sie regelmäßig gelungene Beispiele ihrer eigenen Arbeit vor, stets in dem Sinne, dass geteiltes Wissen nicht weniger, sondern glücklicherweise immer mehr wird – und idealerweise dann zu mehr digitaler Souveränität und besseren Online-Veranstaltungen beiträgt. Darüber hinaus finden sich nützliche Hinweise sowie ein Kartenset für Online-Moderationen im Beitrag „Online moderieren – leicht gemacht“.
Veröffentlicht am 16. Juni 2021
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