Ansatzpunkte für eine zeitgemäße Schulentwicklung
In der Theorie ist Schulentwicklung eine Professionalisierungsbemühung, die sich in einem nie endenden Lernprozess der Einzelschule vor Ort ausdrückt. In der Praxis ist Schulentwicklung alles und nichts, einerseits omnipräsent und andererseits ausgesprochen schwer greifbar. Und: Vielen Kolleg*innen ist sie ein Dorn im Auge. Assoziiert werden lange und bisweilen ergebnisarme Konferenzen oder Arbeitskreise, deren Bemühungen dann doch im Sand verlaufen – initiiert, weil eine Evaluation ansteht oder die vorgesetzte Dienstbehörde verschriftlichte Ziele sehen möchte. Diese Art der Schulentwicklung fußt auf der Annahme, dass Entwicklungsprozesse nur aus dem gemeinsamen Bearbeiten bestimmter Themen entstehen, zu bestimmten Zeiten mit einem speziellen Rahmen, z.B. bei einer pädagogischen Konferenz. Bei manchen Themen mag dieser Ansatz aufgehen, bei anderen führt er zu Ermüdungserscheinungen. Im Ergebnis gelingt es vielen Schulen noch immer nicht, Antworten auf den gesellschaftlichen Wandel zu finden. Sie sind zu langsam, entwickeln sich träge und wirken auf eine akademisch-pessimistische Art innovationsfeindlich.
Hat die Corona-Pandemie etwas an dieser Arbeitsweise geändert? In Ansätzen hat die Krise diese Muster durchbrochen und gezwungenermaßen durch breitere und dynamischere Suchbewegungen des Improvisierens ersetzt. Sollte sich das Infektionsgeschehen aber durch die hoffnungsvolle Mischung aus Frühling/Sommer und Impfstoff beruhigen, befürchte ich, dass viele Schulen wieder in die üblichen Fahrwasser zurückkehren – schon allein deshalb, weil sich an der grundsätzlichen Organisationsstruktur von Schule nichts geändert hat. Das Problem in diesem Muster besteht darin, dass wieder ein Tempo von allen Beschäftigten einer Institution gefunden werden soll und dieses Tempo sich im Kompromiss zwischen Notwendigem und Vermeidbarem einpendeln wird. Das führt zwangsläufig zu Unzufriedenheit in Teilen des Kollegiums, weil es den einen zu wenig vorwärts geht und den anderen irgendwie immer zu viel ist. Aus diesem Grund meine ich, dass Schulentwicklungsbemühungen nach der Krise weniger Gleichschritt benötigen, dafür aber mehr Differenzierung und Möglichkeiten der individuellen Entfaltung.
Eine Schulentwicklung der verschiedenen Geschwindigkeiten
Diese These fußt auf folgender Beobachtung: Aufgrund der Schulschließungen entwickelten sich Stile, Methoden und Gestaltungsmittel von Unterrichtenden immer weiter auseinander. Ein einheitliches Vorgehen ist in den letzten Monaten kaum zu erkennen gewesen, insofern es das auf der Ebene des Unterrichts je gegeben hat. Und mehr noch als Schulklassen sind Kollegien äußerst heterogen und ihre Einzelpersonen wurden und werden immer unterschiedlicher sozialisiert. Meiner Einschätzung nach wird diese Ausdifferenzierung zwischen den Schulen, zwischen den Generationen und zwischen den Klassenzimmern weiter zunehmen. Moderne Schulentwicklung muss diese Prozesse zulassen, anerkennen und sie gleichzeitig als Motor begreifen. Die Antwort besteht in einer solidarischen Schulentwicklung der verschiedenen Geschwindigkeiten. Doch wie kann diese aussehen?
Zunächst einmal muss betont werden, dass einer systematischen Schulentwicklung Arbeitsabläufe zugrunde liegen müssen, die mehr als nur Krisenbewältigung darstellen. Weder im ersten Shutdown des letzten Jahres noch in den Monaten zu Beginn des neuen Jahres konnte von Schulen erwartet werden, Qualitätsentwicklung auf der Prioritätenliste nach oben zu setzen. In dieser Zeit ging es um die Aufrechterhaltung der Grundversorgung und um Organisationsfragen eines neuen Schulalltags auf Distanz. Durch ständig wechselnde Bestimmungen und reichlich spät eintreffende Informationsschreiben der Kultusministerien standen die Zeichen auf Überleben. Die folgenden Überlegungen richten sich daher an die Zeit, in der sich der schulische Präsenzalltag wieder normalisiert haben wird und Schulentwicklungsprozesse vor dem Hintergrund der Pandemie-Erfahrungen reaktiviert werden können – allerdings mit neuer Ausrichtung, anderen Ansätzen, Formaten und Inhalten.
Ein einfaches „back to normal“ wird es nicht geben
Diesen neuen Inhalten liegt die Erfahrung zugrunde, dass Schule auch orts- und zeitunabhängig gedacht und organisiert werden kann. Die Rezepte, die im Fern- und Hybridunterricht zu erfolgreichen Lernprozessen geführt haben, können nun teilweise oder ganz in den Präsenzalltag übersetzt werden. Lehrkräfte, die etwa gelernt haben, ihren Unterricht digital abzubilden, werden diese Routine auch nach der Krise beibehalten, ebenso wie die Kommunikation per Chat und Video vielerorts nicht mehr wegzudenken ist. Das Gleiche gilt für Konferenzen: Zukünftig wird derjenige in der Rechtfertigungspflicht stehen, der ausschließlich auf Präsenz-Meetings setzen möchte. Und zu guter Letzt hat sich die Art und Weise, wie wir uns dezentral fortbilden (z.B. bei E-Sessions), digital zusammenarbeiten (z.B. mit kollaborativen Online-Whitebords) und interdisziplinär vernetzen (z.B. bei Twitter), massiv verändert. Ein einfaches „back to normal“ wird es in diesen Bereichen nicht geben. Die Utopien von Schule sind andere als noch vor der Pandemie.
Für Schulentwicklungsprozesse bedeutet das, dass frühere Anliegen angepasst und um neue Aspekte erweitert werden müssen. Anschließend gilt es, neue Ziele und Maßnahmen zu formulieren und diese in den eigenen Entwicklungskreislauf zu übersetzen. Kollegien brauchen dazu eine aktualisierte Vision von Schule und Unterricht, in der beschrieben wird, wie Lernen grundsätzlich organisiert sein sollte, damit junge Menschen auf ein Leben in dieser digitalen und krisenhaften Welt vorbereitet werden. Der dynamische Entwicklungsprozess hin zu dieser Vision wird dann zum eigentlichen Ziel von Schulentwicklung. Eine gute Schule – das hat sich während der Corona-Krise gezeigt – ist eine lernende Schule, die anpassungs- und widerstandsfähig „mit der Zeit geht“. Sie generiert, reflektiert und verteidigt optimale Lern- und Arbeitsbedingungen für Schüler*innen, für Lehrende und für Eltern. So gut es eben möglich ist.
Die Entwicklungskreisläufe laufen nebeneinander – wie Zahnräder in einem Uhrwerk
Erfolgreiche Schulen werden derartige Visionen formulieren oder haben es bereits getan. Sie werden sich darum bemühen, die immensen Fortschritte im Bereich des digitalen Arbeitens zu nutzen, indem sie das Beste aus beiden Welten (digital/analog und Distanz/Präsenz) in Szenarien des hybriden Unterrichtens in die Präsenzschule integrieren. Diese Aufgabe dürfte für die meisten Schulen weder von Einzelpersonen (z.B. der Schulleitung) noch mit allen gleichzeitig zu erfüllen sein. Vielmehr wird es mehrere Entwicklungskreisläufe geben (müssen), die nebeneinander in Bewegung sind und wie Zahnräder in einem Uhrwerk in Wechselwirkung zueinanderstehen. Das Tempo dieser Bewegungen kann unterschiedlich sein, je nach Zusammensetzung und Dringlichkeit einzelner Arbeitsgruppen und Themen. Aus dem Nebeneinander der guten Ideen könnte eine Kultur des voneinander Lernens erwachsen. Das gilt auch im Verhältnis zur Nachbarschule, zum Schulverbund oder zu weiteren Schulen innerhalb einer Kommune. Es gilt, Synergien durch gemeinsames Reflektieren oder den digital organisierten Austausch von Material bestmöglich zu nutzen und sich zu vernetzen.
Der solidarische Wettbewerb der guten Ideen
Die Akteur*innen stehen dabei in einem solidarischen Wettbewerb der guten Ideen, bei dem es nicht um ein einzelnes „besser sein“, sondern um gemeinsame und befriedigende Antworten auf die täglichen Herausforderungen in der Schule gehen sollte. Schulleitungen müssen Rahmenbedingungen schaffen, die individuelles und kollektives Lernen ermöglichen und die Ergebnisse strukturiert und regelmäßig zusammenführen. Dazu braucht es festgelegte Zeiten für kollegialen Austausch, Räume zum begleiteten Ausprobieren, systematische Fortbildungsbemühungen und definierte Beratungsformen. Schulleitungen müssen dabei achtsam zwischen Themen trennen, die eine straffe gemeinsame Abstimmung erfordern (z.B. bei Aspekten der Dienstpflicht, Organisationsfragen, Bereichen der Öffentlichkeitsarbeit und der Außenwirkung) oder die durch individuelles Ausprobieren bearbeitet werden (z.B. Gestaltung des eigenen Unterrichts, Organisation und Ausgestaltung von kollegialer Zusammenarbeit). Ersteres braucht einen klaren gemeinsamen Rahmen. Letzteres benötigt eine Kultur der flachen Hierarchien, des Ausprobierens, des Ermutigens und des Fehlermachens.
Das Zusammenhalten im eigenen Team gehört auch zur Schulentwicklung
Schulleiter*innen kommt damit eine komplexe und multidimensionale Rolle zu: Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes herausragende Moderator*innen des schuleigenen Entwicklungsprozesses und gleichzeitig integrierter Teil derselben Entwicklung. Sie sind es, die kollegiale Unterstützungsstrukturen aufbauen müssen, um „langsamere“ Kolleg*innen nicht abzuhängen und um der digitalen und methodischen Spaltung entgegenzuwirken – z.B. durch Angebote des gemeinsamen Unterrichtens, niederschwellige Fortbildungen oder feste Ansprechpartner für die Potentiale der Digitalisierung. Gerade der durch Corona beschleunigte digitale Wandel von Schule und Unterricht, mit dem ein zuweilen schmerzhafter Verlust des Alten einhergeht, muss offen, wertschätzend und wertfrei bearbeitet werden. Kollegialität, Empathie und Solidarität dürfen dabei nicht aus den Augen geraten. Das Zusammenhalten im eigenen Team ist ebenso eine Aufgabe von Schulentwicklung wie das ständige und ausdifferenzierte Erneuern der eigenen Arbeit.
Was lernen wir aus der Krise?
Viele der schulischen Akteur*innen haben trotz massiver Belastung im Fern- und Hybridunterricht immens viel dazugelernt und innovative Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozesse angestoßen. Für die kommenden Monate und Jahre gilt es, diese Erfahrungen zu sammeln, auszuwerten und die Ergebnisse in die Zeit nach Corona zu überführen. Mit den Worten meiner Kollegin Cornelia Stenschke geht es jetzt um die „Verstetigung des Guten“, wenn wieder mehr Ruhe im Schulsystem eingekehrt sein wird. Dieser Prozess braucht Planung und eine Portion Widerstandskraft, um nicht in einem didaktischen Rollback in die Komfortzone des (vereinzelten und meist analogen) traditionellen Präsenzunterrichts zurückzufallen. Linear gedachte Schulentwicklungsbemühungen dürften an dieser Aufgabe scheitern. Eine strukturierte und zielführend moderierte Schulentwicklungsdebatte, in der die verschiedenen Geschwindigkeiten in den Mittelpunkt gestellt werden, hätte möglicherweise eine Chance. Zumindest dann, wenn sie als gemeinsame Aufgabe begriffen wird.
Trotz neuer Visionen hat sich am Appell an die Bildungspolitik wenig geändert
Unabhängig von all diesen Überlegungen muss jedoch auch nach einem Jahr Pandemie festgestellt werden, dass sich an den defizitären Rahmenbedingungen von Schule und Schulentwicklung wenig geändert hat. Es fehlt weiterhin an Personal und das Pflichtstundendeputat ist ebenso wie die Arbeitsbelastung in großen und schwierigen Lerngruppen zu hoch – auch wenn diese Aspekte im (anders auslaugenden) Fernunterricht vorübergehend etwas in den Hintergrund geraten sind. Hinzu kommt, dass Schulleitungen mit immer mehr und immer komplexeren Aufgaben betraut werden, sodass die reine Bewältigung des Alltags viele, häufig auch alle Ressourcen bindet (siehe Brandbrief des Bayerischen Schulleitungsverbands). Für die Moderation von Schulentwicklungsprozessen fehlt es dann an Kraft, Zeit und manchmal auch an Motivation. Dem zufolge bleibt die dringende Forderung nach Entlastung für Lehrer*innen und Schulleitungen weiterhin aktuell. Eine zeitgemäße Schulentwicklung, die nicht bloß „nebenbei“ oder „für die Schublade“ bearbeitet wird, braucht ausgeruhte Kollegien und gestärkte Schulleitungen (siehe auch „Entfesselt die Schulleitungen“ und „Ich glaube, dass wir mutig sein müssen“).
Veröffentlicht am 29. April 2021