Ein Gespräch mit dem stellvertretenden Vorsitzenden der GEW-Bayern Florian Kohl über belastete Kollegien, deren Führungskräfte und die ersten Schritte der notwendigen Bildungsrevolution
Das Jahr 2020 war von den Ereignissen rund um die Corona-Pandemie geprägt. Spätestens seit Mitte März wurden Fragen zur Bildungspolitik, zu Schulentwicklung, zu Gesundheitsschutz und zur Digitalisierung unter dem Blickwinkel möglicher Ansteckungen mit Sars-CoV-2 diskutiert. Zentral ging es dabei um die Gestaltung von Fern- und Wechselunterricht und um Strategien, wie Schulen klug mit der belastenden und unsicheren Situation umgehen können.
Im Zuge dieser Überlegungen wurde auf diesem Blog am 7. Juli 2020 ein Beitrag veröffentlicht, der speziell die Schulleitungen in den Blick nahm. Unter dem Titel „Entfesselt die Schulleitungen“ wurde diskutiert, inwiefern gestärkte Führungskräfte wichtig sind, um die „Schule nach Corona“ (gemeint war die Zeit nach dem ersten Shutdown) sinnvoll weiterzuentwickeln. Gefordert wurde unter anderem, Schulleitungen personell aufzustocken und ihnen bedeutend mehr Entscheidungsautonomie zuzusprechen. Darüber hinaus wurde ihre besondere Rolle als „Change Agents“ in den Blick genommen, mit der sie als Hauptverantwortliche dafür zuständig sind, die eigene Schule durch die Zeit der Pandemie zu führen bzw. ihre Schule aufgrund der gemachten Erfahrungen zielführend weiterzuentwickeln. Florian Kohl, stellvertretender Vorsitzender der GEW Bayern, hat den Beitrag daraufhin mit einem neuen Gedanken kommentiert. In seinen Augen müsste die „Entfesselung“ nicht bei den Schulleitungen, sondern bei den Kollegien ansetzen. Dieser Gedankenanstoß hat zu folgendem Gespräch geführt.
JF: Florian, du hast meine Überlegungen zu einer Empowerment-Strategie für Schulleitungen mit dem Hinweis kommentiert, dass dir der Titel „Entfesselt die Schulleitungen“ nicht gefalle. Du meintest, dass es eher „Entfesselt die Kollegien“ heißen müsste. Was hast du dir konkret darunter vorgestellt?
Ich begreife Schulleitung als Teil eines Kollegiums. In meiner Idealvorstellung von Schule gibt es keine straffen Hierarchien, so wie das im bayerischen Beamtensystem vorgesehen ist. In meiner Idealvorstellung von Schule agieren Kolleginnen und Kollegen auf Augenhöhe, Stichwort demokratisierte Schule.
Das wünschte ich mir auch. Gerade jetzt, wo die Herausforderungen an Schulen riesig sind, bräuchte es dieses Miteinander. An welcher Stelle setzt dann deine Kritik an?
Du sprichst davon, dass trotz großer Bemühungen vor Ort die Corona-Pandemie viele Missstände klar sichtbar gemacht hat, insbesondere was die digitale Ausstattung und die damit einhergehende unzeitgemäße Gestaltung von Unterricht angeht. Dann greifst du auf, wie sich diese Missstände ändern könnten: Es geht vor allem um dringend notwendige Schulentwicklungsprozesse, sofern man innerhalb des gegebenen Systems entwickeln möchte. Ich denke, dass wir in der Ansicht, welche Aufgaben Schulleitungen vor allem haben sollten, gar nicht weit auseinander liegen. Sie sind die Moderator*innen und Motivator*innen in ihren Kollegien. Es muss ihnen gelingen, die vorhandenen Potentiale zu erkennen und ihre Lehrkräfte für den Weg der Schule zu begeistern. Ich bin aber nicht der Meinung, dass sie deswegen besser bezahlt oder zahlreicher aufgestellt werden müssten – denn letztendlich sind es die Lehrerinnen und Lehrer, die Schulentwicklungsprozesse umsetzen (können) müssen. Das – und genau das offenbart sich jetzt gerade ebenfalls durch die Corona-Pandemie – kann aber in Zeiten der absoluten Arbeitsüberlastung nicht gelingen. Lehrplandruck, Fortbildungsdruck, Schulentwicklungsdruck, bürokratischer Druck und all das in Zeiten, in denen an Grund-, Mittel- und Förderschulen Regelbetrieb auch ohne Corona aufgrund des extremen Lehrkräftemangels kaum aufrechterhalten werden kann. Es fehlt an Zeit, Raum und Luft zur Entfaltung der Potentiale. Es ist wie ein Teufelskreislauf: Schulentwicklung ist aufgrund gestiegener Anforderungen so notwendig wie nie zuvor. Aufgrund dieser Anforderungen aber haben Lehrkräfte keine Ressourcen, um die Prozesse der Schulentwicklung angemessen gestalten zu können. Ich bin mir sicher: Dazu benötigt es ausgeruhte und motivierte Kollegien, deren Kapazitäten nicht schon mit den Alltagsaufgaben ausgereizt und überreizt sind. Darum mein Hinweis – es braucht entfesselte Kollegien, die sich gerne und motiviert auf neue Wege begeben (lassen).
Du meinst also, dass zuerst Lehrkräfte entlastet werden müssten, um wieder Kräfte für Schulentwicklung freizusetzen?
Ja, die braucht es schon lange. Die verschiedenen Belastungen der Mitarbeiter*innen im Bildungsbereich sind in den letzten Jahren wie auch in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen stark gestiegen, das zeigen etliche Untersuchungen und Studien. Unsere Umwelt und die Anforderungen ändern sich schneller als irgendein “Bildungskonzept” entwickelt werden könnte. Nimm das Beispiel des Rahmenlehrplans: Lehrkräfte gestalten mittlerweile schulinterne Curricula, erstellen Digitalkonzepte, organisieren die technische Ausstattung ihrer Schulen und erarbeiten sich die dafür notwendigen Kompetenzen – was auf dem Weg zu einer autonomeren Schule prinzipiell begrüßenswert ist – erhalten dafür aber keine Zugeständnisse in anderen Bereichen. Im schlechtesten und demotivierendsten Fall ist die Arbeit zwei Jahre später wieder hinfällig. Mir begegnete im Twitterlehrerzimmer bei Jan Vedder kürzlich der Hinweis auf Schaarschmidt/Fischer, die 2006 mit Hilfe der umfangreichen Potsdamer Lehrer*innenstudie wichtige Erkenntnisse zur Belastung und zu Entlastungsmöglichkeiten zusammengetragen haben. Sie präsentieren zum Beispiel den Vorschlag eines veränderten Arbeitszeitmodells von Lehrkräften. Geändert hat sich seitdem nichts, im Gegenteil – Belastungen sind noch intensiver geworden. Und ich muss das auch aus eigener Erfahrung sagen – wenn mich der pädagogische Alltag bereits auslaugt, ich in den meisten Fällen nur noch reagiere und regelmäßig ins “Pädagogenkoma” falle, dann ist es einfach schwierig, auch noch sinnvolle und nachhaltige Schulentwicklung zu betreiben.
Grundsätzlich stimme ich dir zu und ich kenne natürlich das Gefühl, wenn man am Nachmittag völlig fertig auf dem Sofa landet. In der Summe wird von den Kolleg*innen einfach zu viel verlangt, die Zugeständnisse an anderer Stelle fehlen. Mitunter müssen immer mehr neue Bereiche mit Expertise gefüllt werden, für die wir nie ausgebildet wurden (Stichwort Systembetreuung oder Datenschutz). Insofern habe ich in all diesen Punkten keinen Einspruch. Ich bin nur unsicher, ob die durch Entlastung freiwerdenden Kräfte wirklich bei Schulentwicklungsfragen ankommen würden. Aus der Perspektive der Organisationsentwicklung befürchte ich: Entlastung auf der einen Seite beutetet nicht automatisch mehr Engagement in anderen Bereichen, der kausale Zusammenhang fehlt. So sehr ich mir flache Hierarchien wünsche, so sehr bin ich auch davon überzeugt, dass Schulleitungen in ihrer Rolle klar abgegrenzte Vorgesetzte sein müssen. Es braucht Verantwortliche, die den Entwicklungsprozess einer Schule steuern, moderieren, Ressourcen und Potentiale zur Entfaltung bringen, wie ein Dirigent im Orchester oder ein Regisseur im Film. Ich bin bei dir, dass sich mehr orchestrieren ließe, wenn mehr Ressourcen durch mehr Entlastung frei würden.Das fordere ich ja selbst seit Jahren, insbesondere hinsichtlich der Unterrichtsverpflichtung, die in meinen Augen deutlich zu hoch ist. Doch auch auf den Schulleitungen lasten bereits jetzt immens viele Führungsaufgaben und es werden noch mehr. Echte Führung, perspektivisch, verantwortungsvoll, mit Weitblick, menschlich und innovativ braucht ein Führungsteam, eine klare Abgrenzung zum Unterrichtsgeschäft und in dieser Verantwortungsebene auch mehr Bezahlung, schon allein um diese Stellen wieder attraktiver zu machen. Damit wir Kollegien bestmöglich für Schulentwicklungsthemen begeistern können, braucht es Entlastung auf beiden Seiten und eine gestärkte Schulleitung, die die Führung übernimmt. Kannst du da mitgehen?
Ich bin mir nicht sicher, ob es klar abgegrenzte Vorgesetzte sein müssen und ob das auch im Interesse der Schulleitungen selbst ist. Ich kenne Schulleitungen, die ein riesiges Problem damit haben, sich nicht mehr wirklich zugehörig zu einem Kollegium zu fühlen. Wahrscheinlich bin ich da aber einfach zu sehr gefangen in einer sehr romantischen Vorstellung von Schulwirklichkeit: Eine Schule, deren Mitarbeiter*innen sich voll und ganz mit ihrer Arbeit und mit ihrer Schule identifizieren und vor allem eins im Sinn haben – die Kinder bestmöglich in ihrem Lernen zu begleiten und dabei zu unterstützen. Die respektvoll untereinander und in konstruktiver Weise Probleme als gemeinsame Probleme begreifen. Die den ständig wechselnden Anforderungen der Zeit gelassen und motiviert gegenübertreten können, weil sie das Gefühl haben, agieren und gestalten zu können. Die selbstverständlich die besten Rahmenbedingungen genießen, weil gesellschaftlich klar ist, dass das Wichtigste letztendlich unsere Kinder sind. Die Aufgaben der Leitungsebene wären in diesem Fall wirklich vor allem organisatorischer und moderierender Natur. Wie schaffe ich es Menschen zu begeistern, wie schaffe ich es, dass Menschen sich mit dem, was sie tun, identifizieren können? Wie kann es gelingen, kommunikative Strukturen in einer Schule zu etablieren, die erfolgreiches Arbeiten begünstigen? Das sind meiner Meinung nach Fragen, die Schulen als allererstes beantworten können müssen. Es gibt ja genug Beispiele, wie so etwas funktionieren kann. In meiner Realität, auch als Personalrat, habe ich es aber leider viel zu oft mit überforderten Führungskräften zu tun, deren Energie gebunden ist mit all den administrativen Aufgaben, die letztendlich kaum etwas mit den Schülerinnen und Schülern zu tun haben.
Woher kommt diese Überforderung? Liegt es an der Menge der Aufgaben oder an den Aufgaben selbst? Oder vielleicht sogar an den Personen, die eine Führungsaufgabe übernehmen?
Es liegt an der Menge der Aufgaben und Herausforderungen, die in den letzten Jahren sowohl in Zahl als auch in Komplexität gestiegen sind. Ich nenne ein paar Schlagworte: Die Organisation der Ganztagsschule, Kompetenzorientierung, Individualisierung, Inklusion, Öffnung von Schule und Zusammenarbeit mit örtlichen Einrichtungen und die Digitalisierung. All diese Aufgaben erfordern zudem immer mehr Verwaltungstätigkeiten. Schulleitungen sind verantwortlich für den Arbeits- und Gesundheitsschutz, Datenschutz, Brandschutz, sie führen die Statistiken zu Gesundheit, Unterrichtsausfall und schulrechtliche Maßnahmen, organisieren Instandhaltungsmaßnahmen, inventarisieren die Schulausstattung, schreiben Berichte für Behörden, müssen gegenüber der Schulaufsicht regelmäßig Rechenschaft ablegen und sind pädagogisch oft die letzte Instanz, wenn es zu Schwierigkeiten kommt. Angetreten sind sie aber, um etwas zu verändern. In der Realität erledigen sie jedoch in erster Linie Verwaltungsaufgaben und ich denke nicht, dass man Schulleiterin oder Schulleiter wird, weil man so gerne Verwaltungsaufgaben übernimmt. Hinzu kommt: Mittlerweile bewerben sich im Förderschulbereich kaum noch Kolleg*innen auf ausgeschriebene Stellen in der Schulleitung.
Was die Aufgabenfülle angeht, ist das im Grund- und Mittelschulbereich ganz genauso. Bezüglich der Bewerber*innenlage gibt es – soweit ich das überblicke – starke regionale Unterschiede und auch Unterschiede in den verschiedenen Schularten. Dass freie Stellen nicht mehr besetzt werden können, lässt sich jedoch als „Überlastungspräventions-Verhalten“ nicht wegdiskutieren. Aus der individuellen Perspektive ist das wahrscheinlich sogar klug: Diesen Stress will sich einfach kaum mehr jemand antun. Man denke an die Studie der Universität Tübingen (Cramer/Pietsch 2020), die gezeigt hat, wie viele Schulleiter*innen über chronische Überlastung klagen. Meines Erachtens müsste das für Politiker*innen ein Alarmsignal sein. Aber ebenso wie hohe Burnout-Quoten bei Lehrkräften seit Jahren und Jahrzehnten ignoriert werden, passiert wohl auch hier wenig. Letztlich sieht man diesen absurden Zustand, über den wir hier diskutieren, auch im Umgang mit der Corona-Pandemie. Die Defizite an Schulen sind allseits bekannt, die entsprechenden Lösungsvorschläge liegen in großer Zahl auf dem Tisch. Doch statt diese Punkte systematisch anzugehen, sind Veränderungen lediglich punktuell, so dass Teilaspekte verschlimmbessert werden, ohne das große Ganze anzugehen. Du hast in einem Nebensatz angedeutet, inwieweit man Schule „innerhalb dieses Systems“ überhaupt entwickeln möchte bzw. kann. Liegt der Kern des Problems vielleicht tiefer?
Ich bin der Überzeugung, dass unser mehrgliedriges Schulsystem kein zeitgemäßes System mehr ist. Kaum ein Land dieser Erde setzt noch auf ein so differenziertes und kompliziertes Schulsystem. Wir selektieren Kinder viel zu früh, setzen sie viel zu früh einem überprüfbaren Leistungsdruck aus, geben viel zu vielen Kindern von Beginn an das Gefühl, eben nicht erster Klasse, sondern nur zweiter oder dritter Klasse zu sein. Dabei gelingt es uns überhaupt nicht, zumindest gleiche Ausgangsvoraussetzungen zu schaffen. Mein Jüngster geht in den Kindergarten. Wenn ich die Kinder beim Spielen beobachte, ertappe ich mich dabei, dass ich selbst schon einteile. Der Junge, der spricht aber undeutlich, er scheint auch über einen sehr begrenzten Wortschatz zu verfügen, und sozial scheint er auch problematisch zu sein. Und bei dem ein oder anderen Kind im Alter von 3-5 Jahren weiß ich, dass meine Prognose zutreffen wird. Und das empfinde ich gelinde gesagt als Armutszeugnis für ein so reiches Land wie das unsere, auch wenn wir in internationalen Studien immer gut dastehen. Ich behaupte: Für sehr viele Kinder ist bereits bei der Einschulung die schulische Karriere vorbestimmt. Wir ignorieren Erkenntnisse aus der Lernpsychologie, Studien zur Chancengleichheit, Erkenntnisse zu Lerngruppengrößen und Erfahrungen aus anderen Ländern.
Ja, das ist eine traurige Tatsache – unser Bildungssystem ist zutiefst ungerecht gegenüber Kindern. Eine Verwaltungsangestellte erzählte mir in der Schule einmal, dass sie bereits am Tag der Schuleinschreibung (!) prognostizieren könne, auf welche weiterführende Schule ein Kind wohl irgendwann gehen werde. Und ich vermute, dass sie in vielen Fällen Recht behalten dürfte. Bei El-Mafaalani lässt sich nachlesen, dass sogar die Adresse ein extrem guter Indikator sei, um Prognosen für den Bildungserfolg abzugeben (ebd. 2020, S. 94). Du forderst damit völlig zurecht ein, Schule wieder mehr gesellschaftspolitisch zu betrachten. Das bringt uns schnell zu großen Fragen der Chancen(un)gleichheit, der Ungerechtigkeit und dem solidarischen Zusammenleben: Bräuchte es also erstmal einen System-Change, um Schule zukunftstauglich aufzustellen? Oder ist das dann doch wieder nur Romantik – verbunden mit der Hoffnung, dass sich andere Probleme dann von selbst lösen?
Ich bin Idealist, nach wie vor. Ich meine, dass es einen System-Change braucht, nicht nur im Kontext Bildung. Ich spreche oft mit meinem 14jährigen Sohn, der mit Greta Thunberg und Corona groß wird und der die entscheidenden Fragen stellt, auf die ich selbst, auf die wir als Gesellschaft, als Menschheit, keine Antworten zu finden scheinen. Da dreht es sich um die globalen Fragen: Warum Armut, warum Kriege, warum flüchten Menschen, warum Rassismus, warum Massentierhaltung, warum Klimawandel. Antworten findet er auch nicht in der Schule, denn es scheint kaum Raum zu geben, diese Themen dann zu diskutieren, wenn es notwendig ist. Unterricht ist so oft so weit weg von der Lebenswirklichkeit der Kinder. Das ist frustrierend. Ich meine, dass wir nicht wie bisher weitermachen können, wenn wir als Gesellschaft unsere Probleme in Angriff nehmen wollen. Unser aktuelles Bildungssystem kann diese scheinbar nicht lösen, im Gegenteil: Vielleicht ergeben sie sich sogar direkt aus der Art und Weise, wie wir junge Menschen behandeln. Wir sollten Klassen überwinden, und zwar dringend und schnell. Meiner Meinung nach müssen wir deswegen kräftig rütteln und mächtig Unruhe reinbringen. „Nichts kann existieren ohne Ordnung – nichts kann entstehen ohne Chaos.” Spannend wird es, wenn wir ins Detail gehen, denn so ein System ändert sich ja nicht von heute auf morgen. Wo muss geschraubt werden, wo kann überhaupt geschraubt werden, wo sind es sogenannte “Sachzwänge”, die uns am Agieren hindern und uns nur reagieren lassen?
Damit schließt sich der Kreis. Schulleitungen zu stärken macht nur Sinn, wenn Kolleg*innen Ressourcen haben, um Schulentwicklungsprozesse mit Leben zu füllen. Gleichzeitig läuft dieses System Gefahr, dass bald niemand mehr da ist, der vor Ort etwas dirigieren kann. Machen wir es doch konkret: Wo muss deiner Meinung nach geschraubt werden? An welcher Stelle muss die Bildungsrevolution beginnen?
Ich meine, dass wir mutig sein müssen und große kleine Schritte wagen sollten. Die Bildungsrevolution muss bei den Kleinsten beginnen. Wir müssen Kindergärten und Kitas personell besser ausstatten, das Personal weiter qualifizieren und gemäß ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung angemessen bezahlen. Es muss gelingen, annähernd vergleichbare Voraussetzungen zu schaffen und vor allem Sprachbarrieren vor Schuleintritt abzubauen. Die verlängerte Grundschule muss umgesetzt werden, einhergehend mit einer Reform der Lehrkräfteausbildung. Lehrkräfte müssen dazu befähigt werden, schulartübergreifend zu unterrichten. Auch der Stellenwert der Digitalisierung in der Ausbildung der Lehrer*innen muss stärker betont werden. Individuelle Förderung erfordert unbedingt kleinere Lerngruppen. Dazu braucht es mehr schulisches Personal, neben Lehrkräften auch andere professionelle Fachkräfte, um den Bedürfnissen aller Schüler*innen gerecht werden zu können. Angesichts des akuten Lehrkräftemangels muss man das Lehramt als Beruf wieder attraktiver machen und vor allem auch das Image in der Öffentlichkeit aufpolieren. Gelungene Gesamtschulkonzepte sollten uns als Beispiel für Schulreformen dienen. Schulen benötigen dringend mehr Stunden für Verwaltung, Kolleg*innen Freistellungen für zusätzliche Ämter. Womit wir bei der Ausgangsfrage wären. Schulen benötigen ausgeruhte Kollegien, damit die schon lange notwendige Bildungsrevolution nicht nur vorgesetzt, sondern auch mit Motivation vor Ort umgesetzt werden kann. Im Bereich der Digitalisierung schwappt sie ja bereits über uns hinweg, ohne dass wir sie kontrollieren könnten. Wir sollten wirklich mehr Ressourcen für die Bildung unsere Kinder bereitstellen. Alle Kinder sollten es uns wert sein.
Das Interview führte Joscha Falck – veröffentlicht am 29. Januar 2021
Florian Kohl ist Sonderpädagoge, Personalrat und seit Ende 2020 stellvertretender Vorsitzender der GEW Bayern. Darüber hinaus schreibt er auf seinem eigenen Blog über Schule und Bildung: https://www.florian-kohl.net.
Quellen:
Cramer/Pietsch (2020): Leadership in German Schools (LineS2020). Universität Tübingen. Zuletzt aufgerufen am 30.6.2020
El-Mafaalani, Aladin (2020): Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Kiwi Verlag.
Potsdamer Lehrerstudie: https://www.lernwelt.at/downloads/potsdamerlehrerstudieimueberblick.pdf
Pädagogenkoma:
https://www.aerzteblatt.de/archiv/212434/Psychotherapie-mit-Lehrern-Oftmals-schwierige-Patienten
Sehr interessant! Bin gespannt was daraus in den nächsten Jahren daraus wird. Als Pensionär bin ich gespannt ob ich noch Veränderungen erlebe!