Eine Rezension zum gleichnamigen Buch von Aladin El-Mafaalani
In kaum einem anderen Land hängt der Bildungserfolg junger Menschen so sehr am Elternhaus wie in Deutschland. Dieser Befund ist seit Jahrzehnten bekannt und verliert trotz aller Bemühungen nicht an Bedeutung. Im Gegenteil: Die Corona-Pandemie hat ihn noch verstärkt. Der Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück Aladin El-Mafaalani geht in seinem Buch „Mythos Bildung“ der Frage nach, woher diese Chancenungleichheit kommt. Seine zentrale These lautet, dass das deutsche Bildungssystem als Ungleichheitsverstärker einen elementaren Bestandteil des Problems darstellt. Und dass mehr Bildung nicht der richtige Ansatz sein kann, um die Probleme unserer Zeit in Angriff zu nehmen.
„Mit Bildung löst man kein einziges der großen gesellschaftlichen Probleme, etwa die vielen offenen Fragen der Digitalisierung, den fortschreitenden Klimawandel oder den Umgang mit globaler Migration. (…) Es geht um eine Verringerung von Chancenungleichheit, um die Erweiterung von Erfahrungshorizonten und Zukunftsperspektiven für alle Kinder und um die Vorbereitung der nächsten Generationen auf die unbekannten Herausforderungen einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft.“
Der Aufbau des Buches
El-Mafaalani, der das Bildungssystem als Lehrer, Wissenschaftler, Vater und Mitarbeiter in der Bildungsadministration kennt, unterteilt sein Buch in sechs große Kapitel. Sie bauen inhaltlich nicht aufeinander auf und können unabhängig voneinander gelesen werden. Zu Beginn umkreist er den „unmöglichen Begriff“ der Bildung und entlarvt den Mythos der Chancengleichheit. Anschließend werden einige Paradoxien der Bildungsexpansion diskutiert, mit der soziale Ungleichheit trotz gestiegener Bildungschancen in Deutschland zunahm und weiter zunimmt. Im vierten Kapitel zeigt er eindrucksvoll auf, was es konkret bedeutet, in diesem Land in Armut aufzuwachsen – für mich ein Höhepunkt des Buches, der ausgesprochen klar vor Augen führt, wie der Zugang zu Bildung habituell versperrt ist, wenn Menschen sich im „Modus des Mangels“ befinden. Das letzte Drittel von „Mythos Bildung“ nimmt schließlich das Bildungssystem unter die Lupe und mit ihr auch den Beruf der Lehrkraft, deren Alltag es kaum zulässt, soziale Ungleichheit in der Schulpraxis in den Blick zu nehmen und zu bearbeiten.
Den letzten Unterpunkt seines Buches überschreibt El-Mafaalani mit dem Satz „Vieles könnte getan werden“ und nennt zum Beispiel den systematischen Ausbau der Ganztagsbetreuung, das verlängerte gemeinsames Lernen über die vierte Klasse hinaus und den Aufbau multiprofessioneller Teams, die Schüler*innen umspannen und den Unterricht flankieren. Zudem hält er verbindliche Übertrittsempfehlungen für die weiterführende Schule sowie ein zweigliedriges Sekundarstufensystem für begrüßenswert. Dabei vergisst er nicht zu erwähnen, dass das deutsche Bildungssystem im OECD-Vergleich unterfinanziert ist. Irrsinnigerweise vor allem in der Grundschule, wo Ungleichheit am effektivsten reduziert werden könnte.
Für wen ist dieses Buch geeignet?
Das Buch „Mythos Bildung“ ist als Sachbuch für alle diejenigen interessant, die gerne über das Bildungssystem im Ganzen nachdenken und sich für Schule in ihrer gesellschaftlichen Funktion und Verantwortung interessieren. El-Mafaalani macht deutlich, dass Bildungsungerechtigkeit ein fester Bestandteil unseres leistungsorientierten Gesellschaftsmodells ist, tief verwurzelt in unserem Bildungssystem. Sie ist kein Missgeschick, sondern systemimmanent und deshalb auch nicht mit mehr Bildung in den Griff zu bekommen.
„Mythos Bildung“ ist verständlich geschrieben und richtet es sich an eine breite Öffentlichkeit, unabhängig davon, ob der Leser bzw. die Leserin selbst im Bildungsbereich tätig ist. Dem Autor ist ein nachdenklich stimmendes Plädoyer gelungen, das aufzeigt, an welchen empfindlichen Stellen unser Bildungssystem scheitert und was man dagegen tun könnte. An Wissen dazu fehlt es nicht, eher mangelt es an politischem Willen. Lehrer*innen, Sozialpädagog*innen und Personen, die in der Schuladministration tätig sind, sollten „Mythos Bildung“ auf jeden Fall lesen, schon allein deshalb, um die eigene Rolle in diesem auf Ungleichheit setzendem System zu reflektieren. Besonders ans Herz gelegt sei „Mythos Bildung“ aber Bildungspolitiker*innen, die den ein oder anderen Punkt der eigenen Agenda vor dem Hintergrund dieses Buches reflektieren sollten.
El-Mafaalani, Aladin (2020): Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Veröffentlicht am 7. April 2021