Über eine Neuausrichtung schulischer Fortbildungsangebote
Seit Jahren drehen sich Vorträge und schulbezogene Fortbildungen um das Thema Digitalisierung. Die Motivationen sind dabei vielfältig und reichen von politischen Förderprogrammen über pädagogische Neugier bis hin zur Not, Schule digital gestalten zu müssen, weil Corona den Präsenzbetrieb kurzzeitig zum Erliegen brachte. Der digitalen Transformation haftet dabei stets ein Versprechen an, Schule endlich auf die Höhe der Zeit zu katapultieren und ein verstaubtes System zu modernisieren. Damit einher gehen der Hype und die Euphorie vieler Akteur*innen, die unbekannte Pfade auskundschaften und mitunter verheißungsvoll von ihren Entdeckungen berichten. Und in vielerlei Hinsicht ist das inspirierend und verändert Schule schneller als in Jahrzehnten zuvor.
Nun frage ich mich allerdings, wie lange dieser Hype noch anhalten wird. Was soll eigentlich noch kommen, wenn alle Schulen mit digitalen Klassenzimmern und alle Schüler*innen mit digitalen Endgeräten ausgestattet sind? Wird die postdigitale Schule, in der all das selbstverständlich und ohne explizite Hervorhebung von Tablet-Klassen und co. auskommt, wieder „ruhiger“, sodass wir uns dann wieder anderen Themen widmen können? Oder sind die letzten Jahre nur der Anfang einer technischen Hochrüstung des Bildungsbetriebs, deren Steigerungsformen über immer mehr digitale Anwendungen, Künstliche Intelligenz, Virtual Reality bis hin zum Unterrichten im Metaverse reichen werden?
Eine geistige Kreisbewegung
Ich frage mich das auch deshalb, weil in vielen Fortbildungen mit der Logik des Unterrichtens mit X eine geistige Kreisbewegung einzusetzen droht. Immer noch mehr neue Tools erfordern immer wieder neue Anwendungskompetenzen, die beigebracht und/oder erlernt werden müssen. Dazu kommen neue Versprechungen, didaktische Ideen noch besser, anschaulicher und effizienter umsetzen zu können. Der Fokus liegt dabei aber häufig auf dem X und nur selten auf Unterrichten und noch seltener auf Lernen. So ist es zwar beeindruckend, dass die Datenbank von Find-My-Tool bereits über 1000 Einträge zählt[1], doch das Konzept einer wirklichen Veränderung von Unterricht wird nicht mitgeliefert. Und auch Blog-Beiträge, Twitter-Hinweise und Insta-Empfehlungen bleiben uns häufig die Antwort auf die Frage schuldig, wie die Tiefenstruktur des Unterrichts mit all diesen Instrumenten positiv beeinflusst werden kann. Selbst innovative Fortbildungsansätze wie STUDYPOINT teachers berühren diese Ebene nur bedingt. Bei näherer Betrachtung geht es dann häufig doch wieder nur um digitale Anwendungen, die im Mikro-SchiLf-Stil vor Ort umgesetzt oder in Selbstlernkursen erlernt werden sollen[2].
Ich hege den Verdacht, dass diese digitale Transformation an Schulen zu Ende erzählt ist. Sowohl seitens der Ausstattungskomponenten als auch hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Software mag es vielleicht in der Breite der Schullandschaft noch einen Bedarf geben. Im Prinzip aber sind ausreichend Möglichkeiten verfügbar und die Modi des Anschaffens (Stichwort Medienkonzept), des Einrichtens (Stichwort Administration) und des Kultivierens (Stichwort digitale Schulentwicklung) hinlänglich bekannt bzw. nachlesbar. Wir haben keinen Mangel an Erkenntnis mehr, höchstens noch einen hinsichtlich der operativen Umsetzung. Daran werden auch neue Software-Spielereien oder Hardware-Ergänzungen substanziell nichts ändern.
Die Fortbildung ist tot
In diesem Zusammenhang hat mich ein Gedanke von Volker Arntz, Schulleiter der Hardtschule Durmersheim (Deutscher Schulpreis 2020), sehr nachdenklich gemacht. In der Nachbesprechung einer gemeinsamen Veranstaltung im Juni 2022 sprach er beiläufig davon, dass Fortbildung tot sei. Mit ihr gäbe es nur noch immer mehr vom Gleichen, die eigentliche Transformation würde dadurch aber nicht einsetzen. Dazu bräuchte es andere Ansatzpunkte, andere Hebel und vielleicht auch eine andere Haltung. So sind nicht die Digitalisierung oder die Fähigkeiten einzelner Lehrkräfte der Schlüssel zur Transformation der Schule, sondern der gemeinsam organisierte Aufbruch der schulischen Strukturen, damit die Potenziale der Digitalisierung wirklich genutzt werden können. Gemeint ist damit, sich von den pädagogisch ohnehin fragwürdigen 45-Minuten-Einheiten zu verabschieden oder den Klassenverband zu öffnen und die Fächereinteilung dahingehend abzubauen, dass deren Zuschnitt nicht mehr vorgibt, wann zu welcher Tageszeit welches Thema bearbeitet werden muss. In der Konsequenz brächte das völlig neue Stundenpläne, andere Raum-Konzepte, hybride Lernlandschaften mit Lernplänen und Kompetenzrastern, eine veränderte Prüfungskultur sowie Lehrkräfte-Teams, die Lerngruppen und Schüler*innen die meiste Zeit coachen (können) und nur selten „unterrichten“. Und es bräuchte eine andere Art der Lehrkräfte-Arbeitszeit-Strukturierung, um die nötigen Materialien zu erstellen, Fortbildung und Zusammenarbeit zu ermöglichen und Zeit für die individuelle Lernbegleitung freizulegen. Die Basis dieser Entwicklungen wird jedoch nicht mit Fortbildungen zu digitalen Arbeitsweisen gelegt, sondern erfordert ein grundlegend anderes Verständnis von Lernprozessen.
Struktur-Aufbrüche
In Durmersheim und anderen Preisträger-Schulen kann man viele dieser Struktur-Aufbrüche schon besichtigen. Dort ist es gelungen, Lernen anders zu organisieren, indem Schulentwicklungs-Kräfte an den organisatorischen Strukturen von Schule angelegt wurden. Die Hebel sind nicht digitale Tools, sondern eine gemeinsame Vision sowie die nötigen Management-Prozesse[3], um diese umzusetzen. Hinzu kommen verantwortliche Akteur*innen innerhalb der Schule, die in ihren Fachschaften Materialien und Raster entwickeln und digitale Lernlandschaften konstruieren. Schüler*innen lernen dann in projektartigen Zusammenhängen, individualisiert mit Lernjobs und häufig auch ohne Noten. Stattdessen gibt es Kompetenzbeurteilungen und Lerngespräche. Die Ansätze und Bezeichnungen sind zahlreich, letztlich aber nicht entscheidend. Gemein ist ihnen, einen Rahmen für freiere und gleichzeitig besser betreute Formens des Lernens zu ermöglichen.
Eine Neuausrichtung
Vor dem Hintergrund dieser Beispiele benötigen Fortbildungen und Veranstaltungen zur Transformation von Schule eine Neuausrichtung. Wir sollten den Fokus verschieben – weg von digitalen Möglichkeiten für Unterricht und Lernen, hin zu Bedingungen, unter denen Lernen (auch mit digitalen Möglichkeiten) kommunikativ, kooperativ und kreativ organisiert werden kann. Damit zeitgemäße digitale Ansätze den Nährboden bekommen, auf dem sie ihre Potenziale wirklich entfalten können. Damit Blended-Learning-Szenarien wirklich eine Chance haben, um Einzug in die Präsenzschule zu erhalten. Und damit unterrichtliche Strukturen möglich werden, die kreative Entfaltung, effektive Zusammenarbeit, unterstützende Begleitung und individuelles Feedback wirklich zulassen.
Wollte man von dieser Fokusverschiebung Tagungsthemen, Barcamp-Titel oder Fortbildungsbezeichnungen ableiten, so würden diese anders klingen als die der derzeitigen Angebote. Sie trügen dann nicht mehr Titel wie „Interaktive Inhalte mit H5P“ oder „Arbeitsblätter erstellen mit Canva“, sondern zum Beispiel „Klassenverbände lernförderlich auflösen“. Oder „Fächer in offene Lernbüros überführen“, „Individuelle Kompetenzraster statt Standard-Anforderungen“ oder auch „Die Enträumlichung des Klassenzimmers“.
Freilich sind das nur einige Beispiele, die auch davon leben, wer dann dazu etwas beizutragen hat und wie sie konkret umgesetzt werden. Und ob die jeweiligen Personen auch auf Erfahrungen zurückgreifen können, was wirklich zielführend war und was nicht. Nicht umsonst sind Personen wie Micha Pallesche (Rektor der Ernst-Reuter-Schule in Karlsruhe), Stefan Ruppaner (Rektor der Alemannenschule in Wutöschingen) oder der besagte Volker Arntz gefragte Referenten. Sie können authentisch davon berichten, wie die eigentliche Transformation zur zeitgemäßen Schule geglückt ist.
Den Genügsamkeitsreflex überwinden
Die Beispiele machen deutlich, dass eine andere Art von Lernen andere Bedingungen braucht, die zuerst oder zumindest auch verändert werden müssten. Bislang, so könnte man unterstellen, sind wir den zweiten Schritt vor dem ersten gegangen. In der Hoffnung, dass digitale Unterrichtselemente einen revolutionären unterrichtlichen Wandel einläuten. Nachdem dieser augenscheinlich nicht einsetzt, wird es Zeit, die Fortbildungslogik zu überdenken. Nun mag mancher entgegnen, dass derartige Ideen schwierig umsetzen sind und aus diesen oder jenen Gründen vor Ort nicht realisiert werden können. Und wahrscheinlich liegt auch genau darin der Grund, warum sich nahezu die komplette Fortbildungslandschaft auf Apps und Tools konzentriert, die ohne systemische Veränderung in den Unterricht übernommen werden können. Ein Genügsamkeitsreflex im Rahmen des Möglichen und in der Redundanzlogik gleichsam typisch für die digitale Welt. Angeboten wird, was gut ankommt und die Zielgruppe erhält das, was sie ohne große Mühe verwerten kann.
Wer jedoch ein wirkliches Interesse an der Transformation von Schule und Unterricht hat, sollte den Fokus verschieben, und dorthin blicken, wo diese Transformation bereits gelungen ist. Um dann von einer Veranstaltung zurückzukommen und mit dem Struktur-Aufbruch zu beginnen. Vielleicht erst im kleinen Rahmen des eigenen Klassenzimmers. Vielleicht aber auch, um den Funken des Transformations-Hypes in neue Bahnen zu lenken. Und um die eigene Schule gemeinsam mit anderen Stück für Stück zu einer zeitgemäßen Lernumgebung weiterzuentwickeln.
Veröffentlicht am 5. Oktober 2022
[1] https://app.find-my-tool.io
[2] https://studypoint-teacher.de/#kursangebot
[3] Die schulische Organisationsform des Umbaus in Durmersheim war bzw. ist SCRUM, eine agile Methode zur Planung und Gestaltung von Arbeitsprozessen. Mit ihr wurde ein Verfahren gefunden und eingeführt, um viele Personen in unterschiedlichen Rollen verantwortlich einzubringen. Den Ergebnissen nach zu urteilen, scheint dieser Umbau gelungen zu sein.
Grafik 3: Solarseven via www.iStockphoto.com
Der Beitrag hat eine umfangreiche Diskussion bei Twitter ausgelöst. Diese ist überblickshaft auf dem empfehlenswerten Blog von Hauke Pölert dargestellt.
Überdies hat Tilman Gruhn die kritische Entgegnung “Schöne neue Lernwelt?” am 9.10.2022 auf seinem Blog veröffentlicht.
Hinzu kommt ein Beitrag von Michael Graf, der am 13.10.2022 unter dem Titel “Das Hue und Hott in den Schulen – Kann es so weiter gehen?” auf seinem Blog veröffentlicht wurde. Auch dieser Blogpost soll hier nicht unerwähnt bleiben.
Als Medienkoordinator meiner Schule verweigere ich mich dem “noch ein Tool” – Trend konsequent. Das meiste kann man so oder ähnlich mit Moodle (oder anderen Lernplattformen) umsetzen, auch wenn es ggf. (erst mal) etwas mehr Einarbeitungszeit erfordert.
Und das ist m.E. der Punkt: Die Tool-Fortbildungen versprechen “das ist alles einfach” – entsprechend flach sind die Ergebnisse.
Ich habe 2007 den deutschen Bildungssoftwarepreis für “Archimedes Geo3D” erhalten. Das Programm ermöglicht es, auch im Dreidimensionalen Mathematik entdeckend und problemlösend zu erfahren, m.a.W. Inhalte, die ohne die Software nur deduktiv zu vermitteln war, einem induktiven Unterricht zugänglich zu machen.
Die “Tools” hinegen zielen üblicherweise darauf ab, einen komplizierten Sachverhalt zu vereinfachen, eine bereits fertige (im Tool enthaltene) Problemstellung wird anschaulich vorgeführt, aber nicht selbst entdeckt.
Die früheren Tools hatten eher Werkzeugcharakter. Das gilt auch z.B. für Musiksoftware (Notensatz, Audio-Workstation), heutige “Tools” bieten eher die Möglichkeit, aus vorgefertigten Schnipseln etwas schnell zusammenzusetzen. Fastfood-Charakter.
Mein Programm wird kaum noch verwendet, auch von mir selbst kaum noch: Zu anspruchsvoll.
Und so komme ich zum Punkt “Aufbrechen von Lernstrukturen”: Ich versuche das selbst auch, erstelle Lernpfade, mache Differenzierungen (trotz Gymnasium, was ja theoretisch homogen sein sollte und nicht zieldifferenziert) – aber nur da, wo es sich inhaltlich anbietet. Mir ist nachhaltig unklar, wie das Unterrichten im AFB 3 (also selbst Erarbeiten neuer Inhalte, naturwissenschaftliches Denken, Experimente planen, mathematische Zusammenhänge entdecken) in einer wirklich offenen Umgebung funktionieren soll. Die interessanten Zusammenhänge, Experimente, Problemlösungen findet man alle auch fertig im Netz – dann kann man sie aber nur rezipierend aufnehmen, fremde Gedanken versuchen zu verstehen, statt sich eigene zu machen.
Mit anderen Worten: Ich halte meine besten Stunden oft in einer geschlossenen Klassenraumsituation, in der berüchtigten 45 minuten Stunde (oder Doppelstunde), und mir ist bei problemorientierten Unterricht (also solchem, wo diese Probleme selbst gelöst werden sollen und nicht “gegoogelt” werden) unklar, wie das wirklich anders gehen soll.