Wahrscheinlich stellen sich alle Menschen im Berufsleben irgendwann einmal die Frage, ob sie den eigenen Beruf noch einmal ergreifen würden. Wer die Frage uneingeschränkt mit Ja beantworten kann, darf sich glücklich schätzen. Wer aber den eigenen Beruf aufgrund bestimmter Zeitereignisse in einer unerwarteten Härte kennenlernt, relativiert die eigene Einschätzung möglicherweise. Oder bekennt sich erst recht dazu. So wie Alexander Jorde. Er würde seinen Beruf als Pflegefachkraft wieder ergreifen. Das hat mich beeindruckt und nachdenklich gemacht, wie Lehrkräfte diese Frage vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Belastungen beantworten würden. Doch der Reihe nach.
Im Wahljahr 2017 wurde Alexander Jorde als Auszubildender in der Gesundheits- und Krankenpflege bundesweit bekannt. Mit einem bemerkenswerten Auftritt verdeutlichte er in der Fernsehsendung “ARD-Wahlarena”, unter welch verheerenden und für die Patient*innen häufig unwürdigen Bedingungen Pflegefachkräfte in Deutschland arbeiten müssen. Die Adressatin seiner aufrüttelnden Rede war Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Mittlerweile hat Jorde die Ausbildung erfolgreich abgeschlossen, ist Buchautor und arbeitet als Pflegefachkraft im Intensivbereich, unter anderem auch in der Betreuung von Covid-Patient*innen. Damit gehört er der Berufsgruppe an, die zwar bundesweit für ihre Leistungen beklatscht wurde, während der jetzigen sogenannten zweiten Welle jedoch kaum über spürbare Besserungen berichten kann. Am Freitag, den 13. November 2020, war Jorde als Interview-Gast im Podcast Steingarts-Morning-Briefing eingeladen. Im Gespräch mit Dagmar Rosenfeld berichtete er ebenso eindrücklich wie 2017, wie wenig der Sommer genutzt wurde, um sich auf die jetzige Situation vorzubereiten. Und wie enttäuscht er von politischen Entscheidungsträger*innen hinsichtlich der Pflegesituation in Deutschland ist. Beim Zuhören ging mir durch den Kopf, was Pflege und Schule miteinander zu tun haben. Wahrscheinlich auf den ersten Blick nicht viel – und dennoch sind beides gesellschaftliche Bereiche, denen politisch gerne viel versprochen und deren Bedeutung gerne betont wird, mit ähnlich mageren Resultaten. Viele von Jordes Aussagen haben mich deshalb an die Arbeit in der Schule erinnert.
Jorde verdeutlicht neben den Schilderungen der schwierigen und kräfteraubenden Arbeitsbedingungen unter Schutzanzügen, Masken und bei hohen Temperaturen, dass es letztendlich nicht nur um die Patient*innen gehe, sondern eben auch um die Pflegekräfte selbst. Dass diese auch Menschen seien, die ein Recht auf körperliche Unversehrtheit haben – genauso wie die Patient*innen. Ein Recht darauf, dass ihre Gesundheit geschützt wird.
Genau dieser Aspekt lässt auch Lehrkräfte derzeit verzweifeln. Die Kultusminister*innen betonen unablässig, dass Schulen sichere Orte sind und dass Präsenzunterricht in Vollbesetzung für die Schüler*innen so lange wie möglich aufrechterhalten werden muss. Das mag für viele Kinder unbestritten wichtig sein und setzt dennoch Lehrkräfte, Schüler*innen und deren Familien einem enormen gesundheitlichen Risiko aus. Sehr viele unter ihnen sind über 50 und arbeiten ohnehin in einem unter Personalmangel leidenden System am Limit. Ebenso wie Schüler*innen ein Recht auf Bildung haben, haben auch Lehrkräfte ein Recht auf körperliche Unversehrtheit. Die Politik sperrt sich jedoch gegen Organisationsformen von Schule, die mehr Gesundheitsschutz ermöglichen – zumindest bislang. Klassenteilungen, hybride Lernformen, digitaler Fernunterricht für die Sekundarstufe und letztlich Freiheiten für die eigenverantwortliche Schule, vor Ort passgenaue Lösungen zu finden, werden nur als absolute Notmaßnahme in Betracht gezogen. Als gäbe es nur “Schule offen mit Unterricht” und “Schule zu ohne Unterricht”. Viele Lehrkräfte fühlen sich deshalb auf fahrlässige und unverantwortliche Art und Weise „verheizt“.
Auf die Frage, ob die sogenannte zweite Welle für mehr Frustration bei ihm sorge, antwortet Jorde, dass die Politik den Sommer verschlafen habe. Er habe nicht das Gefühl, dass da irgendetwas getan wurde, um sich auf diese Situation vorzubereiten. Zusätzliches Personal wurde nicht rekrutiert, nicht einmal der angekündigte Pflegebonus wäre bei allen Pflegefachkräften angekommen.
Ähnlich verhält es sich im Schulsystem. Obwohl Lehrer*innenverbände seit Jahren auf den Personalmangel hinweisen wird nichts am Lehramtsstudium und nahezu nichts an der Bezahlung von Lehrkräften verändert. Stattdessen müssen Grundschullehrkräfte in Bayern seit diesem Schuljahr eine Stunde mehr unterrichten (29 Unterrichtsstunden pro Woche), ebenso wie Teilzeitmöglichkeiten eingeschränkt wurden. Es war voraussehbar, dass wir mit steigenden Infektionszahlen im Herbst und mit diversen Quarantäne-Ausfällen rechnen müssen. Und dennoch wurde in den wenigsten Bundesländern neues Personal rekrutiert. Die Forderung der GEW, Lehramtsstudent*innen in Schulen einzusetzen, wird immer noch nicht in Betracht gezogen. Ebenso wenig, wie politische Verantwortliche bereit sind, die Stundentafel zu reduzieren, um „Druck aus dem System“ zu nehmen.
Ein ähnliches Bild ergibt sich bei Konzepten zum digitalen Hybrid- bzw. Fernunterricht. Diese sind an zahlreichen Schulen aufgrund engagierter Kolleg*innen entstanden, dürfen jedoch in der Breite des Schulsystems nicht ausgespielt werden. Auf die groß angekündigten Dienstlaptops warten Lehrkräfte bis heute und auch bei den Leihgeräten und Datenflatrates für Schüler*innen sind wir weit davon entfernt, in einem zweiten Schul-Lockdown – und wenn auch nur lokal – für wirkliche Bildungsgerechtigkeit sorgen zu können. Das Grundgefühl dieser Tage lautet: Man hätte in einem reichen Land wie Deutschland, in dem hunderte Millionen für die Wirtschaft ausgegeben werden, deutlich mehr tun können. Immerhin gibt es jetzt in Bayern eine Prämie für Schulleitungen und digital besonders engagierte Lehrkräfte. Keine Frage, alle Beteiligten haben die angekündigten 500 € verdient. Aber eben die allermeisten anderen Kolleg*innen, die keine Prämie erhalten werden, auch. Und andere Berufsgruppen hätten das Geld vielleicht noch besser brauchen können als verbeamtete Lehrkräfte, die weder Kurzarbeit noch Stellenabbau zu befürchten haben. Immerhin bleibt ein bisschen Anerkennung – aber eben auch nur in Bayern.
Die letzte Frage der Journalistin Dagmar Rosenfeld bezieht sich darauf, ob Jorde sich den Beruf der Pflegefachkraft mit dem Wissen von heute noch einmal aussuchen würde. Jorde antwortet mit großer Überzeugung, dass er die Ausbildung auf jeden Fall noch einmal ergreifen würde. Vor allem, weil er als Mensch sehr davon profitiert und in vielen Bereichen sehr viel gelernt habe. Der Beruf der Pflegefachkraft, so Jordo, sei ein unglaublich vielfältiger und interessanter Job. Eine Arbeit, die sehr sinnstiftend sein könne. Aber man müsse Beruf und Arbeitsbedingungen auseinanderhalten. Und im Moment, so beendete er sein Statement, könne er sich – wie viele andere Kolleg*innen auch – nicht vorstellen, das dauerhaft so weiterzumachen.
Die Pandemie und ihre Konsequenzen in der Schule dürften derzeit auch vielen Lehrkräften ihre Freude am Beruf rauben, ebenso wie die politische Strategie „offene Schulen um jeden Preis“ Vertrauen in die Arbeitgeber beschädigt hat. In seinem Gastkommentar „Fehlt nur noch, dass das Kultusministerium jeder Lehrkraft täglich einen Apfel spendiert“ schreibt Florian Kohl auf meinem Blog, dass man in diesen Zeiten niemandem ernsthaft empfehlen kann, Lehrkraft zu werden. Und das obwohl es sich um einen vielseitigen, sinnstiftenden und interessanten Beruf handelt, bei dem man menschlich wächst, lernt und täglich im lebendigen Austausch mit jungen Menschen tätig sein darf. Zumal man als Lehrkraft – und das ist der krasse Unterschied zu Pflegefachkräften – auch noch gut und verlässlich bezahlt wird. Das muss bei allen Ähnlichkeiten, die dieses beeindruckende Gespräch offenbart hat, doch noch einmal betont werden. Der Vergleich zwischen Pflege- und Schulsystem hat natürlich seine Grenzen und ich habe größten Respekt vor Menschen wie Alexander Jorde, der diese so wichtige und harte Arbeit auf sich nimmt und stellvertretend für seine Kolleg*innen für bessere Bedingungen kämpft. Nur: Bessere Arbeits- und Rahmenbedingungen brauchen wir auch in Schulen. Kurzfristig, weil das Infektionsgeschehen an Schulen kein normales Arbeiten zulässt, und auch langfristig, um den wunderbaren Beruf der Lehrkraft wieder für junge Menschen attraktiv zu machen. An guten Ideen mangelt es nämlich nicht.
Würdest du mit dem Wissen von heute noch einmal Lehrer*in werden wollen?
Veröffentlicht am 15. November 2020
Hier geht es zum Podcast von Gabor Steingart
Titelphoto: Drazen Zigic via www.iStockphoto.com
Nein, ich würde ebenfalls den Beruf des Lehrers in Deutschland und insbesondere in NRW definitiv nicht mehr ergreifen wollen. Der Weg war sehr lang und schwer, schwerer als in anderen akademischen Berufen wie denen des Anwalts oder Betriebswirts z.B.. Daher studiere ich (37) seit einiger Zeit berufsbegleitend unter sehr sehr viel Aufwand Wirtschaftsinformatik. Die Bezahlung des Lehrers ist ein Witz, der Beamtenstatus nur etwas für’s Papier ohne heutzutage irgendwelche Vorteile zu haben. Und JA, unkündbar ist man in Dtl. de facto auch in fast jedem anderen Beruf, wenn man ihn normal ausübt!!! Und der Urlaub? Jeder Akademiker in Dtl. hat 30 Tage Urlaub. Das entspricht 6 Wochen! Haben Lehrer wirklich 12 Wochen Urlaub? NEIN! Jeder Arbeitnehmer hat zusätzlich auch die Feiertage frei. Beim Lehrer werden sie in die Ferienwochen vom Normalbürger, der dazu seine Kinder nicht mehr anständig erziehen kann oder ihnen Deutsch beibringt, schon eingerechnet. Zudem habe ich noch keinen Kollegen getroffen, der am Sonntag nicht gearbeitet hätte. Anders geht das auch gar nicht bei dem ganzen Verwaltungskram, Elterngesprächen und Korrekturen. Ach ja, die Arbeitsstunden sind die facto auch mehr. Rechnen wir mal nach: 25,5 Std. + 5 Vertretung + 1,5 Std. Pausenaufsicht + ca. max. 5 Std. Konferenzen pro Woche sind schon zusammen 37 Wochenstunden. Und Ja, damit sind volle Stunden gemeint, denn ich brauche immer 15 Min. pro zusätzlich für einzelne Schülergespräche.
Mir fällt kein Beruf ein, den ich lieber machen würde, als den, den ich “gelernt” habe: Lehrer. Aber ist es noch der Beruf, für den wir ausgebildet wurden. Können wir uns wirklich auf unsere zentralen Aufgaben konzentrieren? Nach meinem Empfinden nicht – uns werden immer mehr zusätzliche Dinge aufgebürdet, die Zeit kosten: ellenlange Zeugnisse – Dokumentation von allen möglichen Dingen, Fortbildungen hier und da, Vertretungen en masse in angespannter Personalsituation – zeitlicher oder finanzieller Ausgleich? Fehlanzeige! Besonders drastisch ist die Lage für Schulleiter, die den ganzen Tag mit Abfragen – Elterngesprächen – Elterninformationen – Klärung von rechtlichen Dingen und momentan dem Umsetzten von den neuesten, kurzfristigen Beschlüssen vom KM absolut ausgelastet sind. Ihr Aufgabenbereich wird ständig ausgweitet, ohne dass ihre Schulleitungsstunden erhöht würden. Das Schlimme ist, dass unsere Arbeit nicht gesehen wird. Es gibt immer noch Eltern und Politiker, die behaupten, dass wir momentan nichts zu tun hätten. Ein Schlag ins Gesicht für uns alle, die wir unseren Beruf ganz neu online definieren müssen und uns das Knowhow dazu selbst erarbeiten müssen. So komme ich doch zu dem Schluss, dass ich es eigentlich nicht mehr sein möchte: Lehrerin!
Definitiv nein. Die Arbeit an sich ist eine herausfordernde aber auch bereichernde Tätigkkeit. Die systemische Struktur, die Arbeitslast und die zeitlichen und räumlichen Rahmenbedingungen können die Sicherheit des Beamtenstatus‘ nicht aufwiegen. Der Lehrerberuf ist in Vollzeit keine gesunde (Lebens-)Perspektive und es ist erschreckend, wie wenig Gesunderhaltungsmanagement für alle Beteiligten im System gelebt wird. Ganz zu schweigen von einer angenehmen Lern- und Arbeitsatmosphäre für alle. All das war schon vor Corona ein Riesenproblem, aber wie in vielen anderen Bereichen auch, offenbart die Pandemie, wie schlecht es um den Lehrberuf eigentlich steht… Mein persönliches Problem ist der sehr steinige Weg hinaus, den ich nun über ein paar Jahre hinweg planen und umsetzen muss… Nach einem knappen Jahrzehnt kann ich sagen: Lehramt – Never again!
Ja, würde ich. Ohne groß drüber nachzudenken. Wir halten die Stellung und versuchen die Kids in den Schulen durch dieses Jahr zu bringen, ihnen die maximale Unterstützung zu geben und sie mit ihen Ängsten und Sorgen nicht alleine zu lassen. Dafür stehe ich jeden Tag auf. Manche Dinge sind von politischer Seite für mich nicht mehr nachvollziehbar und machen mich wütend. Auch die Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsamt ist nicht immer eindeutig. Aber hauptsache die Schulen bleiben offen. Mit Decke und Apfel bewaffnet geben wir alles für unsere Kids und Kollegen.