Ein typischer Schultag im Herbst 2021 – Gastbeitrag einer Grundschullehrerin
Die Belastungen für Lehrkräfte nehmen seit etlichen Jahren zu und sind durch die Herausforderungen im Umgang mit der Corona-Pandemie noch einmal gestiegen. Die Rückmeldungen aus den Schulen klingen dabei im Wesentlichen ähnlich: Die pädagogischen, inhaltlichen und bürokratischen Aufgaben nehmen an Anzahl und Komplexität immer weiter zu. Hinzu kommen der anspruchsvolle Umgang mit sogenannten Lernlücken, die Herausforderung des Testens und die Anspannung im Umgang mit Corona-Fällen vor Ort. Trotz politischer Beschwichtigungsrhetorik kommt an den Schulen in dieser aufgeheizten Lage wenig Unterstützung und noch weniger Wertschätzung an. Im Gegenteil: An Grund-, Mittel- und Förderschulen verschärft sich die belastende Situation, weil kaum noch ausreichend Personal zur Verfügung steht. Erkrankte Kolleg*innen können aufgrund des Lehrer*innenmangels nicht mehr ausreichend vertreten werden, was die Arbeitsbelastung der übrigen Lehrkräfte weiter erhöht. Ohne überdurchschnittliches Engagement der Akteur*innen vor Ort könnte Schule so nicht mehr lange aufrechterhalten werden.
Die Autorin des vorliegenden Textes ist eine der Kolleg*innen, die täglich ihr Bestes geben, um den Kindern trotz widriger Umstände gute Bildung zu ermöglichen. Sie ist Grundschullehrerin in Bayern und möchte anonym bleiben, um sich selbst, ihre Schule und auch die Schüler*innen ihrer Klasse zu schützen. Dennoch hat sie auf eindrucksvolle Weise aufgeschrieben, wie ein typischer Tag in diesem Herbst aussieht – auch, um Außenstehenden einen Einblick in den Alltag einer Grundschullehrerin zu ermöglichen. Ein Alltag, der in dieser Form nicht lange durchzuhalten ist.
Ein typischer Tag
5.30 Uhr: Der Wecker klingelt. Ich habe unruhig geschlafen, zu viele Dinge spuken in meinem Kopf herum. Jetzt muss ich mich beeilen, schnell die Morgenroutine erledigen und dann ab in die Schule, sonst schaffe ich nicht alles, bevor die ersten Kinder um 7.30 Uhr zur Frühaufsicht dastehen.
6.45 Uhr: Bepackt mit drei schweren Taschen voller Schülerhefte und Unterrichtsmaterialien für den Tag sperre ich die Schultür auf. Eine Kollegin und der Schulleiter rollen ebenfalls gerade auf dem Lehrerparkplatz an. Mein erster Gang führt ins Klassenzimmer, um mein Gepäck abzuladen, auszupacken und die Materialien für den heutigen Tag auf dem Pult zu ordnen. Als Nächstes laufe ich ins Lehrerzimmer. Ein Blick auf den Infoplan zeigt mir, was heute zusätzlich ansteht: Vertretungen, Stundenplanänderungen, Termine… Ein neuer Elternbrief der Schulleitung, den ich noch schnell kopieren muss, liegt auf dem Tisch. Er muss unbedingt heute verteilt werden. Das Kopieren kann die Verwaltungskraft leider nicht auch noch übernehmen – wir haben nur eine mit einer halben Stelle und die steckt bis zum Hals in Arbeit. Jetzt muss ich mich aber sputen, wenn ich noch einen freien Kopierer erwischen will.
7.00 Uhr: Die Kopiergeräte laufen schon auf Hochtouren. Dazu muss ich noch dringend einige Bildkarten zuschneiden und laminieren, die ich gestern Nachmittag zusätzlich zu meinem vorhandenen Material erstellt habe, da ich dieses Schuljahr ein hörgeschädigtes Kind in meiner Klasse habe. Es ist auf zusätzliches Bildmaterial und eine drahtlose Signalübertragungsanlage angewiesen, um dem Unterricht angemessen folgen zu können. Weitere Kollegen strömen in den Kopierraum. Kurze Absprachen finden statt. Ein Kollege bittet mich, noch schnell seinen Elternbrief Korrektur zu lesen.
7.10 Uhr: Ich eile zurück in mein Klassenzimmer, um das Tafelbild für die erste Stunde vorzubereiten und die Tische der Schüler mit benötigten Materialien auszustatten. Einige Schüler müssen an der gestrigen Hausaufgabe nochmals nachbessern. Ich lege ihnen die offenen Hefte auf die Tische, damit sie in der Viertelstunde vor Unterrichtsbeginn mit meinen Erläuterungen daran arbeiten können und die Chance haben, den Stoff vollständig zu verstehen.
Zusätzlich muss ich die Teströhrchen der Pooltests auf allen Tischen verteilen und die Liste ausfüllen, die den heutigen Testdurchlauf dokumentiert. Halt! Nicht auf allen Tischen sollen die Teströhrchen liegen, denn die Eltern zweier Kinder haben der Pooltestung nicht zugestimmt. Nun muss ich schnell noch meine Mails checken, ob mir diese Eltern pünktlich das Testergebnis der Apotheke für ihre Kinder gesendet haben. Eine Mail fehlt. Darum kümmere ich mich später. Nebenbei sehe ich noch zwei andere Mails von Eltern: eine Anfrage für einen Gesprächstermin und eine Mail einer besorgten Mutter, die mir mitteilt, dass ihr Kind seit einigen Wochen wieder einnässt und abends ständig weint. Das muss ich später beantworten, denn es ist 7.30 Uhr und ich muss raus, um meine Frühaufsicht wahrzunehmen. Auf das Kind werde ich in besonderem Maße meine Aufmerksamkeit richten.
7.30 Uhr: Ich beziehe Position vor dem Schulhaus, wo schon die ersten Kinder eine ganze Weile warten. Während ich noch über meinen verängstigten Schüler aus der E-Mail nachdenke, kommt schon die erste Schülermutter auf mich zu, die ihr Kind persönlich zur Schule begleitet. Während sie mir das Mittagessen ihres Sohnes in die Hand drückt, das er nachher in der Mittagsbetreuung braucht, da er an einer chronischen Erkrankung leidet, möchte sie wissen, wie es in der Schule momentan so läuft. Ich gehe kurz darauf ein und bitte sie dann um Verständnis, einen Gesprächstermin in meiner Sprechstunde auszumachen, da ich mich jetzt wieder um die Kinder in der Frühaufsicht kümmern muss. Ein Schüler ist eben auf dem Pflaster beim Spielen hingefallen. Einige haben das Aufsichtsgelände verlassen und laufen Richtung Straße, wo eine nicht unerhebliche Zahl an Elterntaxis an- und abfährt. Nun gilt es, den einen Teil der Kinder aus der Gefahrenzone zurückzuholen und gleichzeitig das gestürzte Kind zu trösten sowie seine Platzwunde am Knie zu versorgen.
7.45 Uhr: Der Schulvorhof ist inzwischen rappelvoll mit Kindern. Es klingelt und wir alle begeben uns ins Schulhaus zur Vorviertelstunde in unsere Klassenzimmer. In der Garderobe schlichte ich den ersten Streit. Zwei Kinder haben sich in die Haare bekommen. Im Klassenzimmer sitzt schon eine Schülerin, die weint. Sie hat entdeckt, dass sie an ihrer letzten Hausaufgabe noch etwas verbessern soll. Ihre Frustrationstoleranz ist besonders niedrig. Geduldig spreche ich mit ihr, beruhige sie und erkläre ihr die Lage. Inzwischen kehrt eine gewisse Routine im Zimmer ein. Die meisten Kinder organisieren ihren Arbeitsplatz inzwischen selbstständig und machen sich an die Bearbeitung der Wochenplanaufgaben, die ich zu Beginn der Woche hergerichtet habe. Ein Teil der Kinder hat Fragen und benötigt Erklärungen. Zwei Kinder reichen mir handgeschriebene Zettelchen ihrer Eltern, die ich bis Unterrichtsende beantworten soll. Drei Kinder berichten, dass sie ihre Hausaufgaben nicht oder nur ansatzweise erledigen konnten. In der Zwischenzeit ruft der Schulleiter im Klassenzimmer an. Meine Kollegin im Nachbarklassenzimmer ist krank. Für Vertretung steht niemand zur Verfügung. Obwohl laut Kultusministerium kein Lehrermangel herrscht, gibt es im ganzen Landkreis keine einzige Vertretungslehrkraft mehr. Alle Mobilen Reserven wurden fest in Klassenleitungen eingeplant, da sonst ganze Klassen ohne Lehrer wären. Für mich heißt das erstmal Doppelführung beider Klassen. Ich öffne die Durchgangstür zur Nachbarklasse, die jetzt offen bleibt und hetze zwischen beiden Klassen hin und her.
8.00 Uhr: Der Unterricht beginnt und ich merke, wie mein Kopf schon dröhnt von all dem Stress, den ich seit meiner Ankunft an der Schultür erfahren habe. Ich zähle durch. Ein Kind meiner Klasse fehlt. Ich telefoniere mit dem Sekretariat, um nachzuhaken. Der Schüler wurde nicht entschuldigt. Darum kümmert sich nun die Verwaltungsangestellte und eruiert den Verbleib. Sie wird sich wieder bei mir melden, wenn sie mehr weiß. Doch Unterricht beginnt nun immer noch nicht, denn zuerst muss ich die Pooltestung durchführen. Während ich die Klasse nebenan in die Stillbeschäftigung schicke, führe ich in meiner Klasse den Vorgang durch – Zeitaspekt: 25 Minuten mit Testung, Dokumentation und Dateneingabe in das System. Schließlich muss ich jedes Röhrchen einzeln mit einem individuellen Zahlen-Barcode labeln. Dabei darf ich mich auf keinen Fall vertun – nicht auszudenken, wenn bei einem positiven Corona-Fall der falsche Schüler identifiziert wird! Die Lautstärke im anderen Klassenzimmer steigt. Zweiteilen kann ich mich leider nicht.
Irgendwie habe ich es geschafft, bis zur ersten Pause noch einen Teil meines Unterrichts zu halten. Dabei gab es wieder einige Unterbrechungen, die uns aus dem Lernen reißen – der Rückruf der Sekretärin, eine verschüttete Trinkflasche am Boden, ein Kind mit ADHS, das mehrmals vom Stuhl gefallen ist, der Warnton des Blutzuckermessgeräts eines Schülers, der jetzt schnell Traubenzucker braucht, damit wir hier keinen medizinischen Notfall bekommen, mein Hin-und-herlaufen zwischen beiden Klassenzimmern.
Schließlich klingelt es zur Pause. Ich ziehe mir meine Jacke an und vertrete die Pausenaufsicht meiner Kollegin. Den Toilettengang muss ich auf die Zeit nach Schulschluss verlegen.
Vier Schulstunden habe ich noch vor mir und weiß, dass der Stress nicht weniger wird. Wenn ich ganz ehrlich bin, fühle ich mich jetzt schon erschöpft. In der zweiten Pause muss ich das Schulhaus wechseln, denn unser Schulhaus ist aufgeteilt. 6 km Entfernung und 15 Minuten Zeit. Nach Unterrichtsende fahre ich wieder zurück.
13.00 Uhr: Die Kinder sind weg. Ich setze mich zum ersten Mal heute einen Moment hin und esse kurz meine erste Mahlzeit dieses Tages, während ich nebenbei überprüfe, ob weitere dienstliche Mails angekommen sind. Spontan fällt mir der Spruch „Vormittags Recht und nachmittags frei“ ein. Lächeln kann ich darüber schon lange nicht mehr. Zu viele Aufgaben stehen mir am Nachmittag noch bevor. Als erstes muss ich die Vorfälle des heutigen Tages in meinen Schülerbeobachtungen schriftlich mit Datum dokumentieren und die Schülerliste mit den Fehlzeiten der Schüler aktualisieren. Das ist wichtig, falls es zu rechtlichen Streitfragen kommt und Eltern mit dem Anwalt kommen, wie es meiner Kollegin schon passiert ist. Anschließend räume ich die Lernmaterialien des heutigen Tages im Klassenzimmer auf, sortiere mein selbsterstelltes Freiarbeitsmaterial und packe alles in meine Tasche. Zuhause werde ich die Sachen wieder abheften und gegen die Materialien für morgen austauschen.
Anschließend nehme ich mir die Hausaufgabenstapel und Hefte der Kinder vor. Unter jede Arbeit schreibe ich einen individuellen Kommentar, lobe, ermuntere und erkläre. Ich bemerke einen Eintrag, der unvollständig ist, laufe zum Kopierer und sorge dafür, dass auch dieser Schüler mit seinem Heft vernünftig lernen kann. Nach geraumer Zeit packe ich die restlichen Schülerarbeiten in eine meiner Taschen. Die werde ich mir heute Abend noch ansehen und fertig bearbeiten. Für den Moment brennen mir die Augen und ich muss noch so viele andere Aufgaben bewältigen. Nach der Beantwortung der dienstlichen Emails kopiere ich die Arbeitsblätter für den morgigen Tag.
15.30 Uhr: Ich begebe mich ins Lehrerzimmer. An meinem Fach hängen zwei Klebezettel. Die Betreuerin der Heilpädagogischen Tagesstätte, die eine Schülerin von mir besucht, bittet um Rückruf. Der andere ist von der Sekretärin. Eine Mutter rief an und entschuldigt ihr Kind für morgen wegen eines Arztbesuchs. Ich möge bitte bis morgen Mittag alle Materialien des Schultages zusammenstellen und bereitlegen. Die Zettel klebe ich mir auf meinen Kalender, damit ich die Erledigung nicht vergesse. Nun setze ich mich an den Computer im Lehrerzimmer. Ein vom Dienstherren bezahltes Gerät habe ich zuhause nicht. Natürlich besitze ich einen privaten Laptop und einen Drucker, doch alle Geräte, Verbrauchs- und Büromaterialien muss ich aus eigener Tasche bezahlen, ebenso wie die meisten Bücher und Lernmaterialien, die ich in meiner Klasse einsetzen möchte, um den Kindern das Lernen angenehm zu machen und um auf alle verschiedenen Bedürfnisse möglichst gut eingehen zu können.
17.30 Uhr: Ich bin wirklich müde, greife meine schweren Taschen im Klassenzimmer und mache mich auf den Heimweg. Bei Dunkelheit habe ich das Haus verlassen und bei Dämmerung kehre ich wieder zurück. Wenn ich zuhause meine Materialien verräumt und neu herausgesucht habe, steht mir noch ein Telefonat bevor. Die Schulpsychologin hat um Rückruf wegen eines Schülers gebeten. Es ist wirklich dringend. Eigentlich müsste ich noch einen Elternbrief für den bevorstehenden Wandertag tippen. Das werde ich wohl nicht mehr schaffen, da ja noch übrige Schülerhefte in einer meiner Taschen auf meine Korrektur warten und für meinen hörgeschädigten Schüler muss ich wieder zusätzliches Bildmaterial erstellen. Den längst überfälligen Termin bei meinem Zahnarzt habe ich heute wieder nicht vereinbart. Einen Haushalt und eine Familie habe ich theoretisch auch noch. Mein Beruf nimmt mir dafür den Raum. Doch ich nehme mich zurück, rücke meine persönlichen Bedürfnisse in den Hintergrund, um morgen wieder bestmöglich für alle meine Kinder in der Klasse da zu sein. Sie haben es verdient, eine Lehrkraft vor sich zu haben, die ihnen uneingeschränkte Aufmerksamkeit schenkt und sich um ihre individuellen Bedürfnisse kümmert, damit sie optimale Lernbedingungen erhalten. Wie lange ich das alles noch durchhalte, weiß ich nicht.
20.45 Uhr: Nach meinem 14 Stunden Arbeitstag sitze ich auf der Couch und werde schon bald ins Bett gehen. Überstunden abbauen? Fehlanzeige! Wenn ich Glück habe, kann ich in den Schulferien ein paar Tage frei machen. Ansonsten beschäftigt mich auch in dieser Zeit wieder die Schule. Ich habe keine Zeit, noch länger darüber nachzudenken. Um 5.30 Uhr wird der Wecker wieder klingeln. Ein neuer Schultag beginnt.
Die Autorin ist Grundschullehrerin in Bayern und setzt sich in der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) für die Belange ihrer Kolleg*innen ein.
Bildquelle (Aufnahme der Lehrerin): wavebreakmedia via www.istockphoto.com
Veröffentlicht am 1. Dezember 2021
Tja, und dann soll man noch, weil aus gesundheitlichen Gründen ungeimpft, vor dem Unterricht ins Testzentrum gehen. Mindestens 30 Minuten Wartezeit, Ansteckungsgefahr… Warum können wir nicht in der Schule unter Aufsicht den Test machen, wie in großen Firmen auch?