Ein Interview mit Mara Massari über positive Erlebnisse im digitalen Fernunterricht
Mit den Schulschließungen im Januar 2021 waren Schulen bundesweit gezwungen, Unterricht zum wiederholten Male über die Distanz anzubieten. Im Vergleich zum ersten Shutdown im März 2020 hat sich dabei technisch, strukturell und auch didaktisch eine Menge getan. Aus dem Notfallunterricht wurde und wird eine sich immer weiter professionalisierende Form des digitalen Fernunterrichts, die zahlreiche Lehrkräfte mit Engagement, Leidenschaft und passgenauen Formaten gestalten. Und obwohl sich eine große Mehrheit zurecht einig ist, dass Schule in Präsenz nicht völlig ersetzt werden kann, so ist es auch falsch, den Fernunterricht pauschal als untauglich oder minderwertig abzuqualifizieren. Es gibt nämlich auch Lehrkräfte, bei denen es in diesen Zeiten verhältnismäßig gut läuft und die sich mit großem Einsatz darum bemühen, den negativen Effekten geschlossener Schulen entgegenzuwirken. Über einige erfolgreiche Ansätze im digitalen Fernunterricht der Mittelschule habe ich mit Mara Massari gesprochen.
JF: Mara, im Rückblick kann man sagen, dass die Schulschließungen im jetzigen Winter wenig überraschend daherkamen. Wie hast du dich und deine Klasse auf diese Zeit vorbereitet?
An allererster Stelle stand für mich die Beziehung zwischen den Schüler*innen und mir. Ich wusste, dass ich sie im Fernunterricht nur dann wirklich erreichen kann, wenn wir uns die Basis dafür vorher schon geschaffen haben – mithilfe eines verständnisvollen, zugewandten Umgangs miteinander inklusive aller Sorgen, Fehler und auch Freuden. Gerade, wenn man zuhause alleine lernt, treten doch häufiger Schwierigkeiten und Motivationstiefs auf. Die Hemmschwelle, sich in der Schule kurz zu melden und zu fragen oder im Vorbeigehen am Pult Halt zu machen, ist viel geringer, als die Lehrkraft anzurufen, ihm/ihr zu schreiben oder per Videoanruf Kontakt aufzunehmen. Ohne Vertrauensverhältnis zur Lehrkraft vergrößert sich diese Hemmschwelle nur noch mehr.
Hast du deine Schüler*innen denn bereits im Herbst gezielt mit digitalen Arbeitsweisen für den Fernunterricht konfrontiert?
Ja, allerdings nicht nur mit dem Schwerpunkt auf der Arbeit mit digitalen Tools, sondern eher im Bereich des selbstständigen Arbeitens (Arbeitsplanung, Selbstkontrolle, Umgang mit Fragen/Problemen). Darüber hinaus haben wir einen Schwerpunkt auf „digitale Ordnung“ gelegt (zum Beispiel mit einem System der Dateienablage in Fächerkanälen und Ordnern bei MS Teams). Ein weiterer Baustein bestand darin, die Erkundung der Endgeräte und deren Software anzuleiten. Wir richteten die Apps ein und arbeiteten im Präsenzunterricht schon viel damit, sodass wir zur Schulschließung bereits recht selbstverständlich damit umgehen konnten. Das große Ziel war, dass die Kinder zum Zeitpunkt x das Gefühl von Sicherheit und Zuversicht haben.
Haben sich deine Schüler*innen darauf eingelassen obwohl noch keine akute Notwendigkeit bestand?
Ja, absolut. In dieser Zeit überraschten mich die Schüler*innen immer wieder enorm. Wie schnell sie sich auf die digitalen Anforderungen einstellten und anpassten, wie offen sie den Programmen begegneten und wie gut sie sich zu einem vernünftigen Arbeiten damit haben anleiten lassen, war wirklich toll zu beobachten.
Du arbeitest an einer bayerischen Mittelschule nach dem Klassenleiter*innenprinzip, derzeit in einer sechsten Klasse. Das heißt, dass du einen Großteil der Fächer selbst unterrichtest und jetzt auch in weiten Teilen allein für die Klasse verantwortlich bist. Erleichtert dir das im Moment die Arbeit oder empfindest du das eher als Belastung?
In meinen Augen ist das Klassenlehrer*innenprinzip das größte Geschenk, das wir während des Fernunterrichts haben. Es ermöglicht mir immer den Überblick über die gesamte Fülle an Aufgaben und ich kann gegebenenfalls in Absprache Anpassungen vornehmen, für Abwechslung sorgen und die Bedürfnisse der Schüler*innen berücksichtigen – ich bin sozusagen die Hauptschaltzentrale, von der aus alles koordiniert wird. Dank guter Kommunikation mit meinen Kolleg*innen, die neben mir in der Klasse unterrichten, läuft das reibungslos. Sie lassen mir ihre Aufgaben zukommen, die ich dann in unseren Wochenplan übernehme, bei den Onlineaufgaben achten wir auf ein möglichst einheitliches Format. Für die Klasse ist dadurch alles auf einen Blick in einer Übersicht. Der Wochenplan und die engmaschigen Sprechzeiten mit mir ermöglichen den Schüler*innen ihre Schulangelegenheiten weitestgehend ohne die Eltern erledigen zu können. Dennoch bekommen die Eltern natürlich auch alle Übersichten. Sie lassen sich täglich die Aufgaben zeigen, die ihr Kind an dem Tag geschafft hat und unterschreiben diese im Wochenplan. Das ist für mich besonders bei den analogen Aufgaben wichtig, die ich nicht zugeschickt bekomme. Am Wochenende laden mir die Schüler*innen die unterschriebenen Pläne hoch.
Du erwähnst die Arbeit mit einem Wochenplan. Strukturierst du auf diese Art, was für deine Schüler*innen in der jeweiligen Woche ansteht?
Mir war wichtig, dass nicht nur meine Schüler*innen eine feste Struktur und Rhythmik haben, sondern auch die Eltern und ich – das System muss für alle Beteiligten möglichst verträglich sein. Für die Kinder rhythmisiere ich sowohl den einzelnen Tag als auch die Woche. Sie erhalten immer freitags von mir einen Wochenplan mit Aufgaben für die nächste Woche und eine Übersicht über den Video-Unterricht. Diesen schicke ich per E-Mail an die Eltern, kopiere aber auch für jeden ein Paket mit Materialien, das ich in einer Box vor dem Schulhaus ablege. Die Schüler*innen können am Wochenende mit dem Fahrrad vorbeikommen und die Materialien abholen.
Was passiert dann im Video-Unterricht?
Wir starten jeden Tag mit einem gemeinsamen Tageseinstieg. Hier kommen wir zusammen, tauschen uns aus, reflektieren den Ist-Stand, klären Fragen und planen, wenn nötig, auch gemeinsam den Tag. Montags wird natürlich hauptsächlich der neue Wochenplan erklärt und besprochen. Direkt im Anschluss folgt täglich eine Stunde Video-Unterricht zum Einführen neuer Inhalte, Besprechen von Aufgaben und in Englisch vor allem zum Sprechen. Inhalte, die die Schüler selbstständig erarbeiten können, zum Beispiel mithilfe von Lernvideos, lagere ich aus dem Video-Unterricht aus. Ich möchte bewusst nicht zu viel Unterricht per Videokonferenz planen, da es von den Schüler*innen noch einmal eine ganz andere Konzentrationsspanne und Disziplin erfordert. Da möchte ich sie nicht überstrapazieren. Es gibt ein kleines Warm-up und dann einen kurz gehaltenen Input mit Visualisierung, Gruppenräumen, digitalen Tools etc. Gegen 10.00 Uhr starten die Schüler*innen mit dem selbstständigen Bearbeiten ihrer Wochenplan-Aufgaben. Währenddessen stehe ich ihnen den ganzen Vormittag in Video-Schalterstunden zur Verfügung. In diese können sich die Schüler*innen flexibel beim Arbeiten hineinschalten, wenn sie mich für irgendetwas brauchen.
Dann haben die Schüler*innen zwei Einheiten täglich im Video-Unterricht während in der meisten Zeit asynchron gearbeitet wird. Haben die Schüler*innen nicht Probleme, sich über derart weite Strecken zu fokussieren?
Doch, durchaus. Deshalb versuche ich, in jedem Wochenplan auch „schöne“ Aufgaben mit einzubauen, die Abwechslung bieten und nicht nur „klassischen Lernstoff“ spiegeln (beispielsweise Escape-Rooms, Rätsel, Lesespurgeschichten, freiwillige kreative Aufgaben). Trotzdem wird es nach längerer Zeit nun zunehmend schwerer, Neues anzubieten oder weiterhin Themen und Übungen auszuwählen, die die Schüler*innen selbstständig erarbeiten können. Auch meine Kreativität schwindet. Zudem sind neue Aufgaben und neue Formate zwar abwechslungsreich, werfen aber auch wieder neue Hürden auf. Frustration und Überforderungsgefühl möchte ich während des Distanzlernens möglichst vermeiden.
Ich erlebe häufig, dass Eltern vor allem sichergestellt haben wollen, dass die Kids weitestgehend alleine mit schulischen Belangen klarkommen. Es wird sogar immer wieder angesprochen, dass möglichst viel Unterricht per Video gehalten werden soll. Haben sich die Eltern deiner Schüler*innen auch in diese Richtung geäußert?
Nach mehr Video-Unterricht speziell wurde nicht gefragt. Da ich die Aufgaben für die ganze Woche allerdings nicht fest auf die einzelnen Tage verteile, fragten Eltern und Kinder am Anfang, ob ich sie nicht klarer vorgeben könnte. Ich erklärte, warum ich genau das in der jetzigen Zeit nicht mache. Ich denke, dass diese Zeit eine optimale Gelegenheit ist, ganz andere wichtige Dinge zu lernen, selbstständiger zu werden, nicht immer fertige Produkte von anderen zu übernehmen und abzuhandeln. Meine Schüler*innen machten in den vergangenen Wochen einen riesigen Sprung in ihrer Selbstwahrnehmung und -einschätzung, probierten mit angeleiteter Reflexion verschiedene Dinge aus und erfuhren eine Menge über sich selbst. Wie, wo und wann sie am besten arbeiten können, an welchen Tagen sie produktiv sind, in welcher Reihenfolge sie welche Arbeiten am besten erledigen können, wann und wie sie Pausen einlegen und wie sie diese gestalten können. Für leistungsschwächere Schüler*innen war und ist das immer noch äußerst schwierig, sie brauchen deutlich mehr Hilfe von mir. Aber auch einige von ihnen machen das jetzt zum Großteil schon souverän! Ich bin unendlich stolz darauf, was sie geleistet haben und noch leisten. Mir ist noch einmal ganz bewusst geworden, welche Rolle ich für meine Schüler*innen spielen möchte. Ich sehe mich eher als eine Art Begleiterin auf ihrer Reise zum Selbst, weniger als reine Wissensvermittlerin. Wenn ich den Schüler*innen keinen Raum und keine Gelegenheiten biete, sich auf ihrer Reise zu entwickeln, weil ich ihnen wenig zutraue oder für uns schlicht den leichteren Weg wähle, bleiben großartige Chancen aus.
Die Lehrkraft als eine Art Reisebegleiter*in – ein schöner Gedanke!
Letztlich denke ich langfristig – ich mache meinen Job doch genau dann gut, wenn ich die Schüler*innen nach und nach befähige, Dinge selbst zu tun und mich als Lehrerin eigentlich immer überflüssiger mache. Gleichzeitig durchleben wir eine Phase, in der Kinder ihre Bedürfnisse so stark einschränken und zurückstellen müssen. Also sollten sie zumindest im Bereich des Schulischen ihre Bedürfnisse wahrnehmen und entsprechend handeln dürfen. So oft reden wir von Individualisierung. Wann kann Lernen individueller gestaltet werden als in dieser Zeit? Mir wurde bewusst, dass ich unmöglich alle Kinder in ein Korsett zwingen und jedem von ihnen einen absolut gleichen Tagesablauf mit gleichen Pflichten aufbürden kann, ohne realen Einblick in ihre momentane Situation und Gefühlslage zu haben.
Du beschreibst die eine Seite der Freiheit, die sich in dieser Zeit insbesondere an Schulen entfalten kann, die nicht nach dem Fachlehrer*innenprinzip organisiert sind. Gleichzeitig bedeutet diese Freiheit auch, dass Sicherheit stiftende Rahmenbedingungen wegfallen. Für mich klingen deine Ansätze so als würdest du bei aller Leidenschaft enorm viel Zeit in die Vorbereitung und Strukturierung deiner schulischen Aufgaben legen. Merkst du nicht auch bei dir selbst erste Verschleißerscheinungen?
Doch, natürlich. Ende Januar habe ich gemerkt, dass die Kräfte schwinden – bei mir und auch bei den Schüler*innen. Sie klagten über Motivationslöcher, fehlende Hobbies und Freund*innen. Auch das viele digitale Arbeiten verlor zunehmend seinen Reiz und ich merkte, wie sich die Arbeitsweisen abnutzen können, wenn nur noch digital gearbeitet werden muss. Also überlegte ich, wie ich wieder etwas aufbauen kann. Ich schrieb ihnen Briefe mit aufbauenden Worten und einem Hausaufgaben-Gutschein. Zudem gründete ich eine Laufgruppe, der man freiwillig beitreten konnte und der mittlerweile 20 Mitglieder inklusive Fachlehrkräfte angehören. Als Lauf-Gemeinschaft gaben wir uns einen Namen und setzten uns ein Ziel: Wenn wir in den Ferien schon nicht reisen können, laufen wir einmal gemeinsam die Strecke bis nach Rom – haben wir zusammen 1000 Kilometer geschafft, spendiere ich vor Ort allen ein Eis. Über eine App sammeln wir unsere Kilometer zusammen, jeder Beitrag zählt und auch spazieren und Radfahren sind erlaubt. Ich dachte niemals, dass die Idee auf so viel Resonanz stoßen würde, aber direkt am ersten Tag liefen die Schüler*innen fleißig los. Die App meldete mir dann, dass sie unterwegs sind. Also motivierte auch ich mich. Während ich unterwegs war, feuerten mich meine Schüler*innen über die App an (ich hörte das über meine Kopfhörer). In dem Moment pushte mich das so sehr: Meine Schüler*innen gaben mir zurück, was ich ihnen sonst zu schenken versuche. Plötzlich war da so ein Gefühl von Gemeinschaft – trotz Distanz.
Um genau diese Überwindung von Distanz geht es im Moment. Schön zu hören, dass das so angenommen wird. Siehst du dennoch Grenzen in der Art und Weise, wie Schule jetzt organisiert ist?
Ja, klar – und das darf auch nicht vergessen werden. Wir bewegen uns für mein Empfinden einerseits im Spannungsfeld zwischen auftretender Langeweile und Eintönigkeit, weil die Verfahren und Methoden mittlerweile bekannt sind. Andererseits kämpfen wir bei neuen und unbekannten Ansätzen schneller mit Überforderung. Beide Effekte sind stärker als im Regelunterricht. Für mich hat das aber den Blick auf den Präsenzunterricht nochmal geschärft, z.B. bezogen auf die wirklich wichtige Abwechslung an Methoden und Sozialformen, Ausflügen, gemeinsamer Zeit, dem Schulleben und so weiter. Diese Dinge bieten den Schüler*innen die Abwechslung, die uns jetzt zunehmend fehlt. Hinzu kommt natürlich, dass die Schule als sozialer Ort wegfällt, nicht alle Kinder optimale Bedingungen zuhause haben und ich als Lehrkraft nicht so nah an jedem Einzelnen sein kann wie das im Präsenzunterricht der Fall ist. Da darf man sich keiner Illusion hingeben: Auch wenn vieles augenscheinlich gut läuft, freue ich mich, wenn wieder Schule vor Ort stattfinden kann.
Worauf freust du dich besonders, wenn du deine Klasse wieder im Klassenzimmer vor dir sitzen hast?
Am allermeisten freue ich mich auf ein maskenfreies, ungezwungenes, gemeinsames Lachen, das frei ist von gedrückter Atmosphäre, Vorsicht, Abstand und Regeln. Es fehlt das natürliche Miteinander, nicht erst seit dem Distanzunterricht. Die Wochen vor Weihnachten waren schließlich auch hauptsächlich geprägt von Verboten, reduzierten Möglichkeiten und dem zwanghaften Versuch, größtmögliche „Normalität“ aufrecht zu erhalten. Ich freue mich aber auch darauf, wieder abwechslungsreichen und kooperativen Unterricht machen zu können, genauso wie direkten Kontakt zueinander zu haben und das „Guten Morgen“ nicht mehr durch eine Kamera zu sagen. Ich merke und hoffe, dass diese intensive Zeit uns noch mehr zusammenschweißt und diese Verbundenheit werden wir genießen. Am besten in der warmen Sonne bei unserem wohlverdienten 1000-Kilometer-Eisbecher.
Das Interview führte Joscha Falck – veröffentlicht am 10. Februar 2021
Mara Massari unterrichtet an einer bayerischen Mittelschule und ist derzeit Klassenleiterin einer sechsten Klasse. Kontakt: mara-massari(at)gmx(dot)de.
Passend zum Thema: Die bevorstehende Öffnung der Schulen kann nur gelingen, wenn durch möglichst viel politische Unterstützung maximaler Infektionsschutz gewährleistet werden kann. Einige Vorschläge sowie grundsätzliche Leitlinien finden sich in den älteren Kommentaren “Schön wird es nicht, vorstellbar ist es” und “So viel Unterstützung wie möglich”.
Herr Falck und auch Frau Massari, ich danke Ihnen beiden für dieses aufschlussreiche und wunderschöne Interview zwischen Ihnen beiden. Ich kann mir das unendlich mal durchlesen und lächle immer wieder aufs Neue wie toll Frau Massari Ihren Unterricht in der harten, langen Krise gestaltet hat. So gerne wäre ich in der Zeit Ihre Schülerin gewesen. Ich hätte so eine Lehrerin gebraucht, denn Homeschooling war ein Alptraum für mich persönlich!
Ich bin unendlich froh, dass es vorbei ist.
Danke, dass es so Lehrer*innen gibt wie Sie!