Was es heißt, Lehrkraft im digitalen Zeitalter zu sein
Digitalisierung hat Konjunktur. Das Megathema beflügelt Zukunftsforscher*innen, Konzerne, Journalist*innen, Philosoph*innen, Bürger*innen und Politiker*innen. Gleichzeitig verunsichert es: Wohin sich die digitale Gesellschaft entwickeln wird, vermag niemand zu sagen. Der Diskurs reicht von Schreckensbildern einer digitalen Diktatur (siehe China) über die neue große Arbeitslosigkeit (Richard David Precht) bis hin zu einer neuen Schicht der Nutzlosen, die von ihrer Kaufkraft abgesehen, überflüssig ist (Yuval Harari).
Utopien gibt es freilich auch. Nicht zuletzt im Bildungswesen erhofft man sich durch bessere Ausstattung mit digitalen Geräten moderneren und besseren Unterricht. Die Politik will Schulen, Städte und Kommunen bei dieser Aufgabe unterstützen. Zuletzt gelang es dem Bund mithilfe einer Grundgesetzänderung zum Digitalpakt, Finanzhilfen zur Digitalisierung der Bildung freizugeben. Bedenken gab es zuvor aus einzelnen Ländern: Gegen eine Aushöhlung des föderalen Systems und letztlich gegenüber den Kosten, an denen man sich nun in nicht unerheblichem Ausmaß beteiligen muss. Nicht angezweifelt wurde hingegen die Notwendigkeit, Schulen mit digitalen Geräten auszustatten. Deutschland hinke bei der Digitalisierung insgesamt und vor allem im Bildungswesen hinterher, heißt es über alle Parteigrenzen hinweg.
Auch wenn Schulen auf Finanzmittel des Bundes weiter warten, werden mehr und mehr Schulen mit digitalen Klassenzimmern ausgestattet und Tablets halten Einzug in den Schulalltag. WLAN fehlt zwar vielerorts noch, gilt aber in der Debatte um zukünftige Formen der Bildung als obligatorisch. Die Dauerpräsenz des Themas führt verstärkt zu Fortbildungen. Es gibt wohl keine Schule, die im letzten Schuljahr nicht auf mindestens einer Konferenz über Medienkonzepte und Digitalisierung sprechen musste. Schulleitungen kommen erst recht nicht daran vorbei. All das verändert uns Lehrkräfte und unsere Schulen. Welche Trends lassen sich hier schon heute ablesen, erahnen und auch befürchten? Was bedeutet es, Lehrkraft im digitalen Zeitalter zu sein?
Die Schulleitungen stehen unter enormen Druck, Digitalisierung als ein Thema schulisch umzusetzen, das politisch und nicht zuletzt auch wirtschaftlich motiviert ist. Sie sitzen dabei zwischen allen Stühlen, sind mit großen Erwartungen konfrontiert und sehen sich gleichzeitig Gegner*innen, Zweifler*innen und Skeptiker*innen gegenüber, die auch mitgenommen werden wollen. Schulleiter*innen müssen heute in noch nie dagewesenem Ausmaß Standortmanagement betreiben. Keine Schule möchte abgehängt werden und der Kampf um Schüler*innen wird letztlich auch über die zügig eingerichteten I-Pad-Klassen geführt.
Demgegenüber wissen die Lehrkräfte um die Erwartungshaltung, ihren Unterricht um Aspekte der Medienbildung zu erweitern. Dass Medienbildung als Querschnittsaufgabe über alle Fächer hinweg verstanden wird, zeigt sich letztlich auch in der Medienkonzept-Initiative, bei der alle Schulen aufgefordert sind, Medienkompetenz-Curricula zu erstellen und einzuhalten. Das bedeutet aber auch, dass Lehrkräfte selbst medienkompetent sein müssen oder diese Kompetenz schleunigst erwerben sollten. Die Bandbreite an Themen ist riesig. Für viele Lehrkräfte sind Bereiche wie Informatik und Programmieren jedoch schlicht fremd. Sie sind Expert*innen auf den Gebieten der Pädagogik und der Didaktik. Doch jetzt kommt eine technische Ebene hinzu, die sich sowohl mit der einen als auch mit der anderen Ebene verzahnen wird.
Welche Skills braucht es für das 21. Jahrhundert?
Viele Kolleginnen und Kollegen fragen sich, wie und wann das alles neben den anderen Herausforderungen zu bewältigen sei. Die digitale Avantgarde der Bildungslandschaft beantwortet diese Frage auf gut gemeinte, aber dennoch zynische Art: Lehrkräfte im 21. Jahrhundert brauchen ein bestimmtes Mindset: eine offene, neugierige und zugleich kritische Grundhaltung gegenüber der Notwendigkeit des lebenslangen Lernens. Darüber hinaus sei Vernetzung angesagt. Und man müsse sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Bildung im 21. Jahrhundert auszusehen habe. Konsens ist derzeit das Modell der 4 Ks: Es komme auf Kommunikation, Kooperation, Kreativität und kritisches Denken an. Rechtschreibung, Lesen und Schreiben fehlen. Das mag auf den ersten Blick überraschen. Dennoch wissen wir nicht, ob die Digitalisierung diese „alten“ Fähigkeiten noch als Voraussetzung für ein erfolgreiches Leben bestehen lassen wird.
Wichtiger erscheint eine andere Frage: Verfügen wir Lehrkräfte selbst über diese Skills? Junge Lehrkräfte vielleicht, ältere vielleicht eher nicht? Oder gerade doch, weil sie älter sind? Wie haben wir diese Skills erlernt und wie lassen sie sich unterrichten? Und wenn wir sie erst lernen müssen, wo und mit wem gelingt dies?
Digitalisierungsfans versprechen sich vom Einsatz von Tablets u. Ä. kreative Arbeitsformen, technisch effizient gestaltete Zusammenarbeit, Austausch über prozessorientierte Aufgabenstellungen und kritische Reflexion der Mediennutzung, die auch ins Private wirken soll. Sie argumentieren mit einer Vielzahl passender Apps, die Eingang in den Unterricht finden sollen. Diese Apps sind in großer Zahl auf dem Markt und für alle Betriebssysteme und Geräte zu finden. Die Bandbreite ist unübersichtlich, die Herkunft der dahinterstehenden Firmen oft unklar und deren Geschäftsmodelle basieren in der Regel auf dem Rohstoff des 21. Jahrhunderts: Unseren Daten. „Appification“ und „Gamification“ kommen trotzdem in unseren Klassenzimmern an.
Die Lehrkraft von morgen
Was heißt all das für die Lehrkraft im digitalen Zeitalter? Überspitzt ausgedrückt behält sie den Überblick und vermag, Hype und Trends von sinnvollen didaktischen Erweiterungen zu unterscheiden. Sie erkennt den Wert für ihre Schüler*innen und weiß, die Kultur der Digitalität mitsamt einem weit über die Schule hinausreichenden Leitmedienwechsel im Unterricht abzubilden. Ihr gelingt das, weil sie kein*e Einzelkämpfer*in, sondern lokal, regional, national und vielleicht sogar international vernetzt ist. Zunehmende Innovationsdynamik ängstigt sie nicht. Im Gegenteil, es spornt sie an und sie ist trotz des hohen Tempos gleichzeitig am Puls der Zeit und dabei psychisch gesund und ausgeglichen. Die Lehrkraft von morgen absorbiert und produziert eine Menge an Daten und kann Software zur eigenen Effizienzsteigerung mühelos einsetzen. Sie lässt sich beinahe gläsern in die Karten schauen und lebt den Geist des Sharings. Sie ist davon überzeugt, ihren Schüler*innen Zugang zur Bildung des 21. Jahrhunderts ermöglichen zu müssen. Und sie weiß, dass es dabei hauptsächlich auf sie ankommt und die Technik allein noch keinen besseren Unterricht macht.
Und auch wenn kaum ein Vorgesetzter diese Ansprüche so direkt an Lehrkräfte stellen würde, schweben sie doch spürbar durch die Konferenzen und Fortbildungen. Das macht etwas mit Kollegien und mit dem Berufsstand: Von Verweigerung bis hin zu unkritischem Enthusiasmus erleben wir die unterschiedlichsten Reaktionsweisen. Die persönliche Veränderung wird dabei zu wenig diskutiert, Erwartungshaltungen kaum reflektiert und Ängste schon gleich gar nicht zugegeben.
Die digitale Spaltung
Sicher ist, dass bei dieser Entwicklung nicht alle mitkommen werden. Kollegien drohen im Sog der Digitalisierung in Lager zu verfallen, wobei die Gräben größer als früher sind. Es würde mich nicht wundern, wenn diese Gräben Konflikte und Spaltung nach sich zögen. Eine Spaltung, die die nächsten Jahre mit Schul- und Teamentwicklung bearbeitet werden müsste.
Die digitale Spaltung droht sich auch auf die Schüler*innen zu übertragen. Zunehmend digitaler Unterricht kommt vor allem starken Schüler*innen zugute, weil er auf Selbstständigkeit und Kreativität fußt. Bevorteilt sind wie immer diejenigen, die Medien- und Gerätekompetenz schon von zu Hause mitbekommen. Andere werden noch schneller als bislang abgehängt – inhaltlich und, weil sie vielleicht nicht mit leistungsstarken Geräten mit großen Displays mithalten können, wenn ihre Schule auf das „Bring Your Own Device“-Modell setzt. Das Thema Bildungsgerechtigkeit, ohnehin Deutschlands Schwachstelle, müsste also mehr in den Fokus rücken.
Beziehung und Miteinander dürfen nicht an Bedeutung verlieren
Außer Frage steht, dass die Kultur der Digitalität im 21. Jahrhundert in Schule und Unterricht gehört. Unstrittig ist ebenso, dass diese Notwendigkeit neue Ansprüche an die Professionalisierung mit sich bringt. Und trotzdem sollten wir hinterfragen, welche Entwicklungen und Technologien echten Fortschritt bringen und welche nicht. Bremsende, kritische und nachdenkliche Reaktionen können nützlich sein und müssen weiterhin ihren Platz haben. Dazu gehört auch die schultypische kritische Trägheit bis zu dem Zeitpunkt, an dem der erste Hype abgeflacht ist. Schulentwicklungsprozesse müssen genau an dieser Stelle ansetzen. Letztlich dürfen Lernumgebungen nicht verarmen, weil alle Schüler*innen bunte und individualisierte Endgeräte vor sich haben. Beziehung und Miteinander dürfen trotzdem nicht an Bedeutung verlieren.
Schlussendlich lautet die Herausforderung, lernwirksamen Unterricht zu gestalten und Ausstattung zum Vorteil der Lernenden einzusetzen. Auf diesem Weg sollten wir niemand zurücklassen – weder Schüler*innen noch Lehrkräfte. Schulleitungen sind gefragt, ein gangbares Entwicklungstempo für die eigene Schule zu finden, das solidarisch und individuell anspornend zugleich ist. Zudem sollten Lehrkräfte, die ihre Unzufriedenheit gegenüber all diesen Entwicklungen verspüren, ihre Zweifel anbringen. Nachhaltige Entwicklungen brauchen Zeit. Je schneller sich die Welt um die Schule dreht, desto wichtiger erscheint es mir, diesen Entwicklungen Zeit einzuräumen.