Rezension zum gleichnamigen Buch von Julia Egbers und Armin Himmelrath
Schulen befinden sich seit der ersten flächendeckenden Schulschließung im März 2020 in einer „neuen Normalität“. Dazu zählen einerseits Hygienekonzepte, Maskenpflicht, Desinfektionsmittelspender und abgeklebte Laufwege. Andererseits gehören zur Schule „nach“ Corona auch Videokonferenzsysteme, digitale Lernumgebungen, eine bunte und unübersichtliche digitale Unterrichtskultur sowie ein hohes Maß an Unsicherheit. Derzeit (November 2020) weiß niemand, welche Art von Winter den Schulen bevorsteht und welche Art von Unterricht das Infektionsgeschehen zulässt, auch wenn die politischen Entscheidungsträger*innen Schulen „solange wie möglich offenlassen“ wollen. Doch gerade hinsichtlich dieser Ungewissheit muss die Frage bearbeitet werden, wie es in dieser „neuen Normalität“ weitergehen kann und soll. In ihrem Buch „Das Schuljahr nach Corona – Was sich nun ändern muss“ lassen die Herausgeber*innen Julia Egbers und Armin Himmelrath Eltern, Bildungs-Expert*innen, Lehrkräfte und Betroffene zu Wort kommen, die schildern, wie sie die Krise erlebt haben und welche Forderungen sich daraus ergeben.
Nach der Einleitung von Egbers und Himmelrath finden sich drei übergeordnete Kapitel, unter denen Aufsätze verschiedener Autor*innen subsumiert sind. Der erste Teil des Buches beleuchtet die gesellschaftlich-psychologische Ebene, der zweite Teil die pädagogische und der dritte Teil die Organisationsebene. Unter den Autor*innen finden sich prominente Namen wie der Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann oder der Bildungsforscher Andreas Schleicher, es kommen aber auch Personen der „pädagogischen Basis“ zu Wort. Inhaltlich beschäftigen sich die ersten Aufsätze mit den zahlreichen Versäumnissen des staatlichen Schulsystems und den Auswirkungen der Schulschließungen auf ohnehin benachteiligte Kinder und die damit einhergehende Verstärkung sozialer Ungleichheiten. Es folgen Texte aus Eltern- und Lehrer*innensicht. Diesen ist gemein, wie herausfordernd und komplex die Phase des Fernunterrichts für Familien aber auch für Lehrkräfte war, die in vielen Fällen kaum Erfahrungen zu den Möglichkeiten des digitalen Arbeitens abrufen konnten. Zudem zeigte sich einmal mehr, wie wichtig die Beziehung zwischen Lehrkraft und Kind und wie unersetzbar didaktisches Knowhow der Lehrkräfte für ein erfolgreiches Lernen ist. Dennoch betonen die Autor*innen immer wieder, welche Chance in all diesen Erfahrungen steckt, insbesondere hinsichtlich des Digitalisierungsturbos, der durch die Krise zu verzeichnen war. Diese Chancen werden im letzten Teil des Buches in Form politischer und pädagogischer Forderungen gebündelt, einschließlich einiger Hinweise zu einer neuen Art des Führens.
Aus allen Aufsätzen spürt man die Lust, Schule neu zu denken, zum Beispiel hinsichtlich einer neuen „ent-orteten“ Art des Lernens mit digitaler Unterstützung, mit weniger und anderen Arten des Bewertens und einer Führungskultur auf Augenhöhe, mit einem Vorschuss an Vertrauen und einem Höchstmaß an Transparenz.
Für wen ist dieses Buch geeignet?
Die Aufsätze des vorliegenden Buches „Das Schuljahr nach Corona“ sind lesenswert und in ihrer Zusammenstellung an vielen Stellen inspirierend. Stilistisch bieten die Texte eine interessante Mischung aus wissenschaftlicher Perspektive, dem Blickwinkel von Bildungsjournalist*innen und dem Erleben von Eltern und Lehrkräften. Und auch inhaltlich dürften die allermeisten Analysen und Forderungen auf breite Zustimmung bei Leser*innen stoßen, unabhängig davon, wie schwierig sie umzusetzen sind. Gleichwohl hat mich beim Lesen des Sammelbands von Egbers und Himmelrath das Gefühl begleitet, dass hier ein Buch zusammengestellt wurde, das viele Adressat*innen zugleich ansprechen möchte – und sich damit möglicherweise zu viel vorgenommen hat. Als wissenschaftliches Kompendium sind die meisten Aufsätze zu allgemein gehalten, als Fachbuch für Lehrkräfte fehlt der Bezug zur Praxis, als politisches Buch erscheint es mir zu zergliedert und für Eltern schulpflichtiger Kinder dürften die meisten Texte zu fachspezifisch sein. Zudem wurde es versäumt, eine rote Linie zwischen den Aufsätzen herzustellen, um nicht bloß ein Nebeneinander zu schaffen, sondern eine Botschaft herauszuarbeiten, die als gemeinsames Signal an die Entscheidungsträger*innen des Bildungssystems gesendet werden kann. Gerade hinsichtlich des aktuellen Personalmangels, der Tatsache, dass der Gesundheitsschutz an Schulen mit Füßen getreten wird und der Tatsache, dass die Ausstattung von Schüler*innen und Lehrkräften mit Geräten immer noch nur schleppend verläuft, muss eines beständig wiederholt werden: Damit eigenverantwortliche Schulen zeitgemäß und erfolgreich arbeiten und weiteren Schulschließungen gelassen entgegenblicken können, braucht es massive Investitionen und Entlastungen für das Personal vor Ort.
Empfehlenswert ist das Buch „Die Schule nach Corona“ dennoch für alle bildungspolitisch und bildungswissenschaftlich Interessierten sowie für Schulleitungen und an Schulentwicklungsprozessen Beteiligten. Kurzum: Jeder, der die Schule „nach“ bzw. eher „während“ Corona mitgestalten möchte, sollte einen Blick riskieren.
Nachwort
Möglicherweise sind Schulen aufgrund des Notstands augenblicklich nur wenig oder garnicht in der Lage, um das gemeinsame Lernen aus all diesen Corona-Erfahrungen systematisch zu erfassen. Vielleicht kommt diese Zeit erst noch, wenn der Winter überstanden ist und aufgrund von „Infektionspausen“ mehr Ruhe einkehrt. Spätestens dann lässt sich das Buch von Egbers und Himmerath noch einmal hervorholen, um zu verstehen, was 2020 eigentlich passiert ist und um die richtigen Schritte für zukünftiges schulisches Handeln einzuleiten. Entsprechend heißt es in der Einleitung: „Lassen Sie sich inspirieren – und nutzen Sie den Schwung für Veränderungen in Ihrer Schule und im gesamten Bildungssystem, wo sie nötig sind!“
Veröffentlicht am 1. November 2020
Egbers, J./Himmelrath, A. (Hrsg.) (2020): Das Schuljahr nach Corona. Was sich nun ändern muss. Heb Verlag AG, Bern.