Digitales Krisenmanagement unter den Bedingungen der Pandemie
Das gesellschaftliche Leben in Deutschland ist auf das Nötigste heruntergefahren. Soziale Kontakte sollen reduziert werden, die Grenzen sind dicht und deutsche Schulen haben geschlossen. Nicht weil Ferien sind, sondern um die Verbreitung des Virus SARS-CoV-2 zu verlangsamen. „Flatten the curve“ und „social distancing“ sind die Credos dieser Wochen. Und während ich dies so salopp schreibe, reibe ich mir verwundert die Augen und kann es selbst kaum glauben, dass dieser Zustand Wirklichkeit ist. Was ist jetzt zu tun?
Schulen sollten unter den Bedingungen eines Katastrophenfalls zu allererst den Schutz der eigenen Mitarbeiter*innen sicherstellen. Dazu gehört der Verzicht auf unnötige Treffen und die Absage von Konferenzen, die physische Anwesenheit erfordern. Zudem gilt es, Kolleg*innen zu unterstützen, die kleine Kinder zu versorgen haben sowie das aufzufangen, das Erkrankte erzwungenermaßen liegenlassen. In einer noch nie dagewesenen Situation wie dieser steht uns dieser Moment der Fürsorge für uns selbst zu. Es ist in Ordnung, inne zu halten und sich erst einmal zu sortieren.
Dennoch sind wir aufgefordert, das Heft des Handelns wieder in die Hand zu nehmen, um auch diese Zeit nicht bloß zu überstehen, sondern sie zu gestalten. Angesichts der bundesweiten Schließung aller Bildungseinrichtungen ist nun häuslicher „Unterricht“ angesagt. Dieser muss organisiert, moderiert und so gestaltet werden, dass nicht bloß Beschäftigung sichergestellt ist, sondern Lernen ermöglicht wird. Die Tatsache, dass dies nun von Null auf Hundert digital geschehen muss, hält jeder Bildungseinrichtung einen ehrlichen Spiegel vor. Spätestens jetzt merken Schulen, wie weit die Digitalisierung im eigenen Haus ist. Wir erleben eine riesige Spanne von „kaum digitale Möglichkeiten“ bis zur „perfekt vernetzten Lernumgebung“. Diese Versäumnisse müssen jetzt von allen Schulen nachgeholt werden – unter Zeitdruck und vor dem Hintergrund, dass weder Schüler*innen richtig eingewiesen noch Lehrer*innen lange eingearbeitet werden können.
Dazu braucht es zuerst einmal eine kritische Bestandsaufnahme. Die folgenden vier Stufen sollen hierfür ein Gerüst bieten. Sie zeigen, welche Kriterien erfüllt werden müssen, um häuslichen Unterricht zu organisieren. Gleichzeitig dienen diese Entwicklungsschritte dazu, sich selbstkritisch klarzumachen, wo man steht und wo als erstes angesetzt werden muss. Sie sind gleichermaßen ein Reflexionsinstrument und eine Entwicklungsskizze.
1) Miteinander kommunizieren
Die Basis des derzeitigen „Homeschoolings“ ist, dass Lehrkräfte mit ihren Klassen in Kontakt treten können. Die sollte nach Möglichkeit so gestaltet sein, dass mehrere Personen gleichzeitig angesprochen werden können, etwa bei einem E-Mail Verteiler. Daneben bleiben Telefon und das Verschicken von Informationen per Post oder Fax bewährte Mittel, die auch weiterhin Berechtigung haben.
2) Daten übermitteln
Darüber hinaus müssen Schüler*innen mit Lernmaterialien versorgt werden. Dies sollte digital geschehen, etwa per Mail oder durch das Angebot in einer Cloud, etwa über einen ausgewiesenen Bereich der Schulhomepage. Hierunter fällt auch die Vermittlung der unzähligen Möglichkeiten, sich im Netz zu informieren und zu üben. Daneben besteht die Möglichkeit zum Postversand oder einer Abholung von Material durch Eltern, die an die Schule kommen.
3) Feedback ermöglichen
Für einen häuslichen Unterricht, der mehr als Beschäftigung ist, braucht es allerdings nicht bloß Materialien. Vielmehr müssen Schüler*innen die Gelegenheit haben, Fragen zu stellen. Ebenso müssen bearbeitete Aufgaben „abgegeben“ und korrigiert werden können. Feedback zur geleisteten Arbeit ist dabei unerlässlich. Technisch ist das über verschiedene Kanäle denkbar, etwa über ein „Hin- und Herschicken“ von Aufgaben. Eleganter lässt sich diese Notwendigkeit innerhalb einer Cloud lösen, die das Bearbeiten eines Dokumentes von mehreren Personen zulässt. Darüber hinaus sind auch Messenger-Dienste denkbar, die sowohl Kommunikation als auch den Transfer von Daten ermöglichen. Einige sind mittlerweile in manchen Bundesländern freigegeben (z.B. Threema und Signal). Diese Dienste und die dadurch ermöglichten Klassengruppen sind vor allem für Schüler*innen zu empfehlen, die eine intensivere Betreuung und damit einen „direkten Draht“ zur Lehrkraft benötigen.
4) Sich virtuell begegnen
Zu guter Letzt braucht es eine Möglichkeit, um Schüler*innen und Lehrkräfte live und digital in Kontakt zu bringen. Versuche in Richtung virtueller Klassenkonferenzen oder Beratungen von Kleingruppen im Video-Chat können die bisherigen Punkte ergänzen. Die Hochform der digitalen Unterrichtsorganisation ist allerdings erst dann erreicht, wenn es gelingt, Daten auszutauschen während man sich virtuell begegnet. Technisch braucht es dazu eine digitale Lernumgebung, die gleichzeitig an einen Cloud-Speicher angebunden ist und Kommunikation ermöglicht. Dieser Anspruch lässt sich unter anderem mit Microsoft Office 365 lösen. Die bayerische Lösung Mebis bietet diese Möglichkeiten mit der Lernplattform auch, leider aber deutlich umständlicher.
Betrachtet man diese vier Stufen der Unterrichtsorganisation in Zeiten des Corona-Virus, fällt Folgendes auf: Schulen, die auf der unteren Entwicklungsstufe stehen, sind in ihrem Handlungsspielraum stark eingeschränkt und müssen jede Herausforderung einzeln denken und lösen. Im anderen Fall gelingt die Organisation aller Bereiche quasi im Vorbeigehen, wenn man über eine funktionierende digitale Lernumgebung verfügt. Das macht deutlich, welches Potenzial in virtuellen Klassenzimmern steckt: In ihnen kann kommuniziert, Material ausgetauscht, rückgemeldet (und bewertet) und sich in Echtzeit begegnet werden. Und während vielen Schulen aktuell klar wird, wie nützlich diese Umgebungen sind, kommt eine zweite Einsicht gleich hinterher: All das, was für die Organisation des häuslichen Lernens der Schüler*innen gilt, braucht es auch, wenn die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften ortsunabhängig und digital organisiert werden soll. Jetzt ist die Zeit, diese Arbeitsweisen zu entwickeln und zu üben – trotz der politischen Versäumnisse, der schlechten Ausstattung und dem immer noch eklatanten Fortbildungsdefizit, das in diesem Bereich besteht.
Ein Konzept, das für alle passt, existiert nicht
Neben all diesen Verheißungen muss aber auch auf folgenden Punkt hingewiesen werden. Schulen müssen je nach Schulart und Alter der Schüler*innen unterschiedliche Wege finden, die zur eigenen Situation passen. Grundschullehrkräfte haben zwar häufig E-Mail-Verteiler zu Eltern, würden aber so schnell keinen Unterricht in Microsoft Teams organisiert bekommen, der nicht mehr mit den Schüler*innen gemeinsam eingeführt und geübt werden kann. Hier bieten Messenger-Dienste durchaus eine sinnvolle Alternative. Ältere Schüler*innen, denen man eine gewisse Selbstständigkeit zutrauen sollte, können sich alleine in digitalen Umgebungen zurechtfinden, auch wenn keine Einweisung mehr erfolgen kann. Und zu guter Letzt muss noch darauf hingewiesen werden, dass Schüler*innen keinesfalls immer über einheitliche und gute technische Ausstattung zu Hause verfügen. Die Corona-Pandemie darf in diesem Zusammenhang nicht dazu beitragen, die Bildungsungerechtigkeit weiter zu verschärfen. Hier sind Augenmaß und schülerorientierte Lösungen gefragt, die für die eigene Schule richtig sind. Kurzum: Es braucht maßgeschneiderte Ansätze. Ein Konzept, das für alle passt, existiert nicht.
Was es jetzt braucht, sind digitale Schulentwicklung und ein kluges Krisenmanagement, bei dem die Chancen der aktuellen Lage in den Mittelpunkt gerückt werden: Strukturiert, mutig und klug organisiert. Dazu braucht es die Innovator*innen der digitalen Avantgarde. Dazu braucht es aber auch die Sachaufwandsträger, die Klassenleiter*innen, die Fachschaften, die Skeptiker*innen und diejenigen, die sich noch nicht an digitales Arbeiten herangetraut haben. Jetzt ist die Zeit dafür, sie (digital) zusammenzubringen. Das ist die eigentliche Herausforderung und die eigentliche Chance, die im derzeitigen Krisenmanagement liegt.
Diese Zeit wird mit Sicherheit in die Geschichte des Bildungswesens eingehen
An die kommenden Wochen (und vielleicht Monate) wird man sich noch lange erinnern, weil Unterricht aufgrund der Notlage vollkommen anders organisiert werden musste. Möglicherweise wird diese Zeit aber auch den Anstoß dazu gegeben haben, Unterricht nachhaltig und flächenwirksam zu verändern. Die Chance dazu besteht, weil wir in der privilegierten Lage sind, dass unsere Löhne weitergezahlt und wir weiter beschäftigt werden, auch wenn die Schulen längere Zeit geschlossen bleiben. Dennoch stellt sich die Frage, ob langfristig die richtigen Schlüsse aus dieser außergewöhnlichen Zeit gezogen werden. Es könnte auch zu einem reflexhaften „zurück zu alten Mustern“ kommen, wenn die Schulen wieder geöffnet werden. Aus diesem Grund möchte ich ein paar Vorschläge machen.
Was könnten die Lehren aus dieser Krise sein?
– Schule „läuft weiter“, auch wenn keiner mehr kommt (und obwohl keine Ferien sind).
– Lehrkräfte sind in der Lage, Unterricht unabhängig von Raum und Zeit so zu organisieren, dass Lernen nachhaltig möglich ist.
– Alle am Bildungssystem beteiligten Personen trauen sich, mutige Schritte hin zu einem zeitgemäßen vernetzten Unterricht zu gehen. Und zwar in kurzer Zeit. Weil man die Vorteile erkannt hat. Und zwar alle.
– Häuslicher Unterricht in der Krise (möglicherweise sogar mit Ausgangssperre) kann kein zeitgemäßer Unterricht sein. Dennoch hat diese Phase den Grundstein dazu gelegt, um die digitale Notversorgung in zeitgemäße Arbeitsformen an den Schulen zu überführen.
– Schulleitungen gelingt es, digitale Lernumgebungen aufzubauen, die selbstverständlich von allen Kolleg*innen genutzt werden und Eingang in jede Art von Unterricht finden.
– Lernen wird als selbstständige und selbstbestimmte Handlung begriffen, die von Schulen ermöglicht wird – egal, ob im „Homeschooling“ oder im Präsenzunterricht. Die Kultur des „Eintrichterns“ kommt damit zum Erliegen.
– Lehrkräfte schließen sich für die gemeinsame Organisation von Unterricht zusammen und behalten diese Gewohnheit auch über die Pandemie hinaus bei.
– Der Fokus des Unterrichtens verschiebt sich weg vom „Stoff“ hin zur Gestaltung von Lernumgebungen mit intelligenten und komplexen Aufgabenstellungen.
– Schüler*innen brauchen und bekommen eine gleichwertige und zeitgemäße Ausstattung, die digitales, vernetztes und ortsunabhängiges Lernen langfristig ermöglicht. Nicht in Form von Computerräumen oder Klassenzimmer-Technik, sondern in Form digitaler Endgeräte, die als personalisiertes Schüler*innengerät ausgegeben werden können – idealerweise von der Schule gestellt. Das zu ermöglichen, ist Aufgabe des Staates. Und dieser hat während der Corona-Pandemie begriffen, dass es höchste Zeit ist, diesen Anspruch auch in die Tat umzusetzen.
All das kann der Digitalisierungsturbo, den wir gerade erleben, in Gang setzen. In kürzester Zeit bringt er Handlungen und vielleicht auch Haltungen in Bewegung. Er hat den nötigen Schwung, um bereits erfolgreiche Konzepte in die Breite der Schulen zu tragen und diese dort nachhaltig – also über die Notversorgung hinaus – zu verankern. Und er ermöglicht es, Schule und Unterricht aus der Perspektive des Innehaltens und Zurücktretens neu zu denken. Schlussendlich wünsche ich mir, dass die derzeitige Situation trotz aller Schrecken zur nachhaltigen Veränderung von Schule und Unterricht beiträgt – zu Gunsten der Schüler*innen. Dazu ist es notwendig, dass wir bisher Versäumtes jetzt nachholen und möglichst viele dabei mitnehmen. Denn eines zeigt die Corona-Zeit schon jetzt: Es kann ohnehin nur gemeinsam funktionieren.
Ein Nachwort: All diese Gedanken liegen unter einem bleiernen Zweifel
Niemand vermag die Auswirkungen der aktuellen Krise einzuschätzen: Gesundheitlich, volkswirtschaftlich, politisch und kulturell. Ich auch nicht. Gegenwärtig wünsche ich uns allen, dass diese schreckliche Pandemie einigermaßen glimpflich vorübergehen und wir uns von allen Folgen erholen mögen. Es ist ein schmaler Grat, diese apokalyptische und irgendwie absurde Zeit als Entwicklungschance zu diskutieren. Um mich herum ist vor allem Unsicherheit und Verstörung wahrzunehmen. Freund*innen und Kolleg*innen haben Angst und sorgen sich um ihre Familien und Angehörigen. Das gilt auch für mich. Möglicherweise verlieren wir Freunde und Angehörige. Möglicherweise zeigen die nächsten Monate, dass wir nichts weiterentwickeln werden, sondern uns mit einem massiven Rollback auseinandersetzen müssen. Dennoch macht sich inmitten dieser Ungewissheiten Motivation breit, diese Phase zu gestalten, positive Dinge hervorzuheben und Chancen zu betonen. Beides steht nebeneinander und ich möchte beiden Perspektiven einen Platz einräumen.
Danke Joscha und Respekt! Du sprichst das Thema in seiner ganzen Bandbreite an, einschließlich des Hinweises, dass nicht alle Schüler*innen zu Hause über die nötige Unterstützung und Ausstattung für digitalen Unterricht verfügen. Damit es in Zeiten der Coronakrise auch den weniger bildungsprivilegierten Kindern gelingt, die notwendigen Lernschritte zu machen, braucht es besonders in der Grundschule noch die traditionellen Arbeitshefte und Bücher.
Hi Joscha!
Gute Aspekte drin, die ich unterschreibe. Allerdings beschäftigt mich das Bild vom digitalen Wilden Westen sehr aus deinem anderen Artikel. Wie gerade mit Schülerdaten sorglos rumgefeuert wird, ist beängstigend. Gerade in der GS sind die Schüler doch noch viel stärker datenschutzbedürftig :). Sei es Lernplattformen, sei es mächtige Softwarelösungen der Großen o. ä.
Big Data für Big Brother? Und Goldgräberstimmung für Verlage und Entwickler um jeden Preis und im Deckmantel der Corona-Soforthilfe? Digitale Souveränität oder Drogendealerstrategie der Großen? Gleiche Chancen durch gleiche Geräte zu Hause? Demokratisieren oder kapitalisieren wir gerade Bildung? Können FLOSS-Lösungen überhaupt noch eine Chance haben?
Gerade jetzt wird das Geld unter die Schulen gebracht, doch viele bekommen heute etwas, was vielleicht in der Rückschau hätte anders aussehen müssen. Mir ist schwindelig! Leichten Rollback-Blues gerade eben. Aber wird schon wieder! Aber gerade diese ungewöhnlichen Zeiten fördern bei mir diese kritischen Fragen mal wieder nach vorne. Denn in der Begeisterung rückt das manchmal in den Hintergrund.
Ich verfolge gerne weiter deine anregenden Artikel. Danke dir!
Bis bald
Christian
Lieber Joscha, du bringst die ganze Bandbreite der Situation sehr gut auf den Punkt! Es gibt viel Sinnvolles zu tun. Gehen wir es planvoll an!
Hallo Josha,
starker Artikel!
Der Tenor ist bei uns der gleiche.
Hatten unsere erste Konferenz online, auch das war sehr interessant.