Erfahrungen mit dem FREI DAY
Im Schatten des allgegenwärtigen KI-Hypes bahnt sich eine leise Revolution des schulischen Lernens ihren Weg. Sie ist weniger spektakulär, und doch meine ich, dass sie eine nachhaltige transformative Kraft im Bildungswesen entfalten kann. Die Rede ist vom sogenannten FREI DAY, einem projektartigen Lernformat der Initiative Schule im Aufbruch, mit dem wir an meiner Schule seit diesem Schuljahr experimentieren. Nach den ersten Durchläufen möchte ich meine Erfahrungen in diesem Beitrag teilen.
Was ist der FREI DAY?
Der FREI DAY ist eine Erfindung der Schulreformerin und „Schule im Aufbruch“ – Gründerin Margret Rasfeld. Es handelt sich um ein spezielles Lernformat, bei dem Schülerinnen und Schüler 4 Stunden pro Woche an selbst gewählten Themen arbeiten. In der schulischen Umsetzung kann der FREI DAY phasenweise oder kontinuierlich durchgeführt werden. Wichtig ist, dass das Lernformat strukturell verankert und damit Teil des Stundenplans wird.
Die thematische Klammer des FREI DAY bilden die BNE-Ziele (Bildung für nachhaltige Entwicklung), die wiederum Teil der von den Vereinten Nationen verabschiedeten Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung sind. Mit dieser Agenda hat sich die Weltgemeinschaft 17 Ziele für eine soziale, ökologische, nachhaltige und wirtschaftliche Entwicklung gesetzt. Beim FREI DAY geht es also nicht um Schulfächer und Stoff, sondern um die Verbindung von Wissen und Handeln für eine bessere Welt. Der Slogan von Schule im Aufbruch lautet passend: Lernen, die Welt zu verändern.
Wie sieht die Umsetzung an meiner Schule aus?
In den zwei Jahren, in denen ich mich nun intensiv mit dem FREI DAY auseinandergesetzt habe, durfte ich lernen, dass es den FREI DAY nicht gibt. Vielmehr gibt es unterschiedlichste Umsetzungsarten und Organisationsformen an Grund- und weiterführenden Schulen. Dabei taucht die Idee des FREI DAY gerne auch unter anderem Namen auf, z.B. als Nachhaltigkeitstag, SDG-Day oder als TuEs-Tag (es muss nämlich auch kein Freitag sein). Gemein ist allen Spielarten, dass der Stundenplan und die Einteilung des Schultages in Fächer strukturell aufgebrochen werden, um Freiräume für die Themen und Projektideen der Lernenden zu schaffen.
An meiner Schule haben wir uns nach intensiven Beratungen im Schuljahr 22/23 dazu entschieden, den FREI DAY innerhalb begrenzter Projektzeiträume und in den Klassen einzuführen, deren Lehrkräfte mitmachen wollten. Die aufgewendeten Stunden wurden von den Klassenleitungen ausgewiesen und kamen überwiegend aus den Fächern Deutsch, GPG (Geschichte, Politik, Geographie), NT (Natur und Technik) und WiB (Wirtschaft und Beruf). Die erste Phase ging etwa von Oktober bis Februar, die zweite von April bis Juli. Anfangs starteten nur wenige Klassen, später machten abgesehen vom Abschlussjahrgang alle Klassen mit, teilweise mit klassenübergreifenden Projektgruppen. Es war uns wichtig, allen beteiligten Lehrkräften die notwendigen Spielräume zu lassen.
Was hat der FREI DAY bisher verändert?
Die Einführung des FREI DAY setzt intensive Abstimmungen voraus. Das zeigte sich bereits im letzten Schuljahr als es um die Organisation der Stunden, um mögliche Projekte und um den Ablauf der FREI DAY-Zeit ging. Uns beschäftigte insbesondere, wie wir die BNE-Ziele einführen und unsere Schüler*innen anregen sollen, eigene Themen mit entsprechenden Forscherfragen innerhalb dieser Ziele zu finden bzw. zu formulieren. Schon an diesem Punkt wurde deutlich, wie wir in Konflikt mit unserer bisherigen Rolle als üblicherweise regieführende Lehrkräfte kamen. Denn der FREI DAY „funktioniert“ anders: Es braucht Vertrauen in die intrinsische Motivation der Lernenden, Mut zum Loslassen der eigenen und institutionellen Erwartungen (und Zwänge) und einen veränderten Umgang mit der eigenen Rolle.
Ohne in Anspruch nehmen zu wollen, dass uns das alles bereits gelungen ist, konnten wir die erwünschten Effekte an einigen Stellen beobachten. Unsere Schüler*innen suchten sich vielseitige und interessante Themen wie den Bau eines kleinen Aquariums, die Erforschung von Rassismus-Erfahrungen an der Schule, eine Spendenaktion für die Tafel und die Bearbeitung der Frage, ob Waffen eigentlich zu mehr Frieden führen. Darüber hinaus untersuchten sie unsere Schule im Hinblick auf Barrierefreiheit, setzten sich für die freie Verfügbarkeit von Periodenprodukten ein, erstellten kreative Mutmachkarten (vgl. Abbildung), recherchierten, was Jugendliche alles zu gängigen Drogen wissen sollten, und beschäftigen sich mit der Plastikvermüllung in den Weltmeeren. Mit mal mehr und mal weniger Motivation wurden diese Themen größtenteils selbstständig, immer wieder aber auch mit Unterstützung bearbeitet und letztlich vor den Eltern, den Mitschüler*innen und im Rahmen des sommerlichen Schulfestes vorgestellt.
Mutmachkarten einer Schülerin (Klasse 5)
Nach nun einem Schuljahr kann ich an einigen Punkten erkennen, wie uns diese Arbeit im Kollegium und mit den Schüler*innen verändert hat:
- Wir haben bisher unbekannte Seiten, Rollen, Fähigkeiten und Interessen an den Kindern entdeckt.
- Der FREI DAY hat an vielen Stellen Kontakte zu außerschulischen Partnern und Expert*innen ermöglicht.
- Innerhalb der FREI DAY-Zeit haben wir Schüler*innen Gelegenheit gegeben, das Schulhaus für ihr Projekt zu verlassen. So konnten Expert*innen-Interviews und vor-Ort-Besuche durchgeführt werden, was an vielen Stellen zu starken Projektergebnissen führte.
- Besonders gefreut hat uns, wenn Schüler*innen FREI DAY-Besuche außerhalb der Unterrichtszeit durchgeführt haben (z.B. ein vollkommen selbstständig organisierter Termin in einer Drogenberatungsstelle, um dort Materialien zu erhalten).
- Die Projekte entfalteten auch außerhalb der Schule Wirkungen und wurden so auch öffentlich wahrgenommen (z.B. durch eine Spendenaktion für die Tafel oder die „EVERYONE IS WELCOME HERE“ – Grafik eines Schülers, die nach Anfrage im Rathaus als professionelles Schild gedruckt und unterhalb der Ortsschilder angebracht werden soll).
- Es war an vielen Stellen deutlich spürbar, dass die Schüler*innen bei ihren Projekten an eigene Grenzen stoßen, diese überwinden und so echte Selbstwirksamkeitserfahrungen machen konnten.
- Wir Lehrkräfte haben verstärkt über unsere eigene Rolle nachgedacht und gemeinsam nach Wegen gesucht, wie Lernbegleitung effektiv, aber nicht dirigistisch umgesetzt werden kann.
- Durch den FREI DAY haben wir uns mit anderen Schulen vernetzt, uns ausgetauscht und uns fortgebildet, unter anderem zum methodischen Rüstzeug für die Projektgruppen (z.B. zur Erstellung von Podcasts). Auf Schulamtsebene hat sich zudem ein Arbeitskreis etabliert und es finden regelmäßige Vernetzungstreffen statt. Die Zusammenarbeit im eigenen Kollegium wurde gestärkt.
- In unserer Region (Mittelfranken) experimentieren einige Schulen mit dem FREI DAY. Zunehmend mehr Schulen wollen aufspringen und ebenfalls loslegen.
Welche Schwierigkeiten hat der FREI DAY ausgelöst?
Der FREI DAY bringt ein Spannungsfeld mit sich, dass vermutlich alle Schulen beschäftigt, die diesem Format eine Chance geben. Einerseits verhindert ein zu eng geführter Unterricht über die BNE-Ziele die Entfaltung eigener Projektideen. Andererseits kann zu viel Freiheit zu Überforderung, Ineffizienz und Beliebigkeit führen. Zudem fallen die üblichen extrinsisch motivierenden (bzw. bedrohenden) Faktoren weg: Im FREI DAY werden keine Leistungsnachweise geschrieben, es gibt keine Noten und es geht nicht darum, dass am Ende ein eindrucksvolles Produkt entstanden sein muss.
Auch unsere Schüler*innen fragten anfangs nach, ob sie denn eine Note bekämen. Als sie dann hörten, dass dem nicht so sei, war das für einige das Signal, in der FREI DAY-Zeit erstmal nichts weiter tun zu müssen als zu entspannen und sich mit Freunden zu unterhalten. Im Rückblick sind unsere Kolleg*innen unterschiedlich damit umgegangen. Die einen versuchten darauf zu vertrauen, dass durch die Beobachtung anderer sowie durch Feedback und Gespräche Motivation entsteht. Andere leiteten mehr an, unterstützten mit Anregungen und Ideen und versuchten mit Blick auf den bevorstehenden Zieltermin (Elternabend, Schulfest) sanften Druck aufzubauen.
Was besser gelingt und zu mehr Erfolg führt, kann ich nicht sagen – letztlich ist das wohl eine Entscheidung, die jede FREI DAY-begleitende Lehrkraft für sich treffen muss. Wir haben dieses Loslassen aber als große Herausforderung empfunden, weil es Mut erfordert, sich zurücknehmen und die gefühlte eigene Verantwortung für die Erfolge der Lernenden, die tief in der eigenen Lehrkräfte-Sozialisation verwurzelt ist, beiseite zu schieben.
Der FREI DAY wirbelt hierbei das eigene Selbstverständnis als Lehrer*in auf und fordert uns heraus, ein nicht von uns vorstrukturiertes und angeleitetes Lernen so anzunehmen, wie es eben von den Schüler*innen kommt. Und manchmal ist eben einfach keine Motivation da, manchmal hat jemand kein Thema, was ihm/ihr wichtig ist, manchmal werden Fragestellungen nur oberflächlich behandelt und manchmal passiert auch bei einigen einige Wochen lang sehr wenig. Diese – augenscheinlich – vertane Zeit auszuhalten und unsere Schüler*innen in diesen Momenten nicht mit Blick auf schwächere Ergebnisse abzuwerten, also die eigene Output-Fixierung loszulassen, das hat uns herausfordert und wird es auch zukünftig tun.
Die eigentliche Challenge des FREI DAY lautet aus meiner Sicht, den Mut für dieses Loslassen aufzubringen, es zu reflektieren und gemeinsam damit umzugehen. Und dann daran zu wachsen.
Wozu kann der FREI DAY noch anstiften?
Ich bin davon überzeugt, dass der FREI DAY ein Anstifter zu einer umfassenden Schultransformation sein kann. Als Lernformat kann er innerhalb der bestehenden systemischen Strukturen und in allen Schularten eingeführt und umgesetzt werden. Inhaltlich lassen sich vier Stunden pro Woche von Fächern wegnehmen, ohne deren Inhalte fundamental in Gefahr zu bringen (hierbei sind verschiedene Modelle denkbar, Beispiele finden sich im Buch von Margret Rasfeld). Zudem lässt sich die FREI DAY-Zeit über die breite Palette der BNE-Ziele rechtfertigen, die ohnehin zahlreiche Lehrplanbereiche berühren. In Bayern ist Bildung für nachhaltige Entwicklung überdies im Lehrplan benannt.
Der FREI DAY selbst kann zudem Anstoß sein für weitere Strukturaufbrüche, z.B. für Fächer verbindendes und jahrgangs- bzw. klassenübergreifendes Lernen. Er stärkt Schüler*innen in ihrer Eigeninitiative und ermutigt Lehrkräfte, überfachliche Lern-Kompetenzen sowie selbstreguliertes Lernen zu ermöglichen, anzuleiten und durch Scaffolding-Ansätze beim Projektlernen zu stärken.
Entscheidend ist aber aus meiner Sicht etwas anderes: Der FREI DAY ist eine Schule der Haltung. Er fordert und fördert Offenheit, lässt uns mehr über Bildung, Lebens- und Alltagskompetenzen nachdenken und stärkt die Schule als eine Institution, deren Arbeit in das Quartier, die Gemeinde oder den Stadtteil hinauswirkt. Er macht unsere Schülerinnen und Schüler fit fürs Leben, weil er vor dem Hintergrund individuell relevanter Themen das Leben in die Schule lässt. Der FREI DAY ist eine Art trojanisches Pferd der Veränderung, durch das umfassende Ansätze einer neuen Lehr-/Lernkultur in die Schule gelangen können. Der Rest ist dann Schulentwicklung und Haltung und Mut[i].
Was sollten Schulen und Lehrkräfte wissen, die sich für dieses Format interessieren?
Wer sich für den FREI DAY interessiert, sollte sich nach Möglichkeit mit einigen Kolleg*innen zusammentun und eine Initiative an der eigenen Schule starten. Sofern das Vorhaben von der Schulleitung unterstützt wird und sich ein kleines Team gefunden hat, können erste Überlegungen getroffen und Material gesammelt werden (Vorschläge finden sich am Ende des Beitrags). Anschließend halte ich es für unablässig, sich mit Schulen (und evtl. auch der Initiative Schule im Aufbruch) zu vernetzen, die dieses Format bereits eingeführt haben. Der wohl schwierigste Schritt ist es, die vielen Anregungen und Ideen in einen geeigneten Fahrplan für die eigene Schule zu überführen. Ist dieser Schritt geschafft, kann es losgehen – möglichst in dem Bewusstsein, dass Anpassungen und Veränderungen weiterhin möglich und notwendig sind und dass der FREI DAY kontinuierlichen Austausch und ehrliche Reflexion erfordert. Doch auch wenn anfangs noch nicht alles glatt läuft, so lohnt sich die Mühe in vielerlei Hinsicht.
Was sagen Schüler und Lehrkräfte über den FREI DAY?
Am Ende unseres ersten FREI DAY-Jahres haben wir die beteiligten Schüler*innen zu ihren Erfahrungen befragt. Einige ihrer Aussagen habe ich im folgenden Slider zusammengestellt.
Links und Lesehinweise
Web-Auftriff von Schule im Aufbruch: https://schule-im-aufbruch.de
FREI DAY-Seite von Schule im Aufbruch: https://frei-day.org
Das passende Buch von Margret Rasfeld: „FREI DAY: Die Welt verändern lernen! Für eine Schule im Aufbruch. Strategien für Zukunftsorientiertes Lernen und aktive Mitgestaltung nachhaltiger Bildung.“
Nützliche Materialien zum Start in der eigenen Schule auf einer TaskCards: https://www.taskcards.de/#/board/9d38afd4-c829-46f8-9b2a-a990916d2e9f/view
[i] So betrachtet wundert es auch nicht, dass Schule im Aufbruch über den FREI DAY hinaus eine ganzheitliche Schulentwicklung anstrebt, den sogenannten Whole School Approach.
Hinweis zu den Bildrechten: Das FREI DAY Logo wurde mir von Schule im Aufbruch zur Verfügung gestellt. Die Mutmachkarten sowie das Willkommensschild wurden von unseren Schülerinnen und Schülern für diese Veröffentlichung freigegeben. Die Übersichtsgrafik zu den 17 Zielen stammt aus dem Downloadbereich von www.17ziele.de.
Veröffentlicht am 8. Juli 2024
1 thought on “Vom schwierigen Mut des Loslassens”