Über ein Bildungssystem zwischen Pubertät und Reife
Schule ist im Wandel. Wurden dem Bildungswesen jahrzehntelang Trägheit und geringe Veränderungsbereitschaft nachgesagt, erleben wir in den letzten Jahren ein beschleunigtes und unter Innovationsdruck stehendes System. Vor allem das gesellschaftliche Mega-Thema der Digitalisierung schlägt große Wellen und wirbelt die Bildungslandschaft auf. Neben zahlreichen Veranstaltungen, die sich dem digitalen Wandel widmen, war es auch der Streit um den Digitalpakt, der die ganze Nation über IT-Einsatz in der Schule diskutieren ließ.
Eine innovative und gut vernetzte Gruppe treibt die Schule vor sich her
Während sich die Medien andere Themen suchten, ist die Unruhe im Schulsystem geblieben. Insbesondere eine kleine Gruppe engagierter Kolleg*innen hat sich der digitalen Transformation der Schule verschrieben. Diese digitale Avantgarde treibt die Schule derzeit vor sich her und bemüht sich um den Anschluss der Schule an die technischen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts. Es geht ihnen um zeitgemäße Bildung in einer digitalisierten Welt und um die Frage, was Schüler*innen im 21. Jahrhundert eigentlich an Kompetenzen für ein erfolgreiches und glückliches Leben ausprägen sollten. Mit diesem Engagement prallt sie auf die Wirklichkeit einer Institution, die bisher weniger von Innovation als vielmehr vom Charme deutscher Behörden geprägt war.
Was wir derzeit beobachten können, ist das Aufscheuchen eines alten Systems. Verantwortlich dafür sind nicht bloß innovative Schul- und Unterrichtsentwickler*innen, sondern auch die Bestrebungen (und Reglementierungen) der Kultusministerien. Angebote hagelt es ebenso seitens verschiedenster IT-Firmen, die Produkte verkaufen möchten. Und nicht zuletzt muss eine von den Medien erzeugte gesellschaftliche Erwartungshaltung bedient werden, dass die Schule nun doch endlich aufschließen möge zu den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts. Dieses Aufscheuchen schlägt deshalb so große Wellen, weil es genau den empfindlichen Punkt der Institution Schule trifft: Die Institution müsste sich verändern, schafft dies aber nur bedingt.
Dem Schulsystem schwirren die Nullen und Einsen um den Schädel
Um es mit einem Bild auszudrücken: Mir kommt es gegenwärtig so vor, als schwirrten dem ohnehin angeschlagenen Schulsystem die Nullen und Einsen der Digitalisierung wie Sternchen um den Schädel. Es fühlt sich an wie Schwindel und wirkt nach außen und innen oft wie unkontrolliertes Stolpern. Klarheit herrscht kaum und wird von allen Seiten schmerzlich vermisst.
Blickt man von oben auf Schule und Gesellschaft, erkennt man den immer klarer werdenden kulturellen Wandel, den die Digitalisierung ausgelöst hat. Das ist freilich spannend und fasziniert viele. In der Schule fühlt es sich ein bisschen wie die Entdeckung eines unbekannten Landes voller Möglichkeiten an. Mit etwas Kitsch könnte man sagen: Es erinnert an die Besiedelung des Wilden Westens. Und wir sind live dabei.
Die analoge Schule kann die Herausforderungen des modernen Lebens nicht beantworten
Bei dieser Besiedelung besteht in einem Punkt große Einigkeit: Die „alte“ analoge Schule kann die Herausforderungen des modernen Lebens nicht adäquat beantworten. Die Schule des 21. Jahrhunderts muss nun den Raum dafür schaffen, Antworten auf den gesellschaftlich-kulturellen Wandel der Digitalisierung finden zu können. Dazu muss Unterricht unter den Bedingungen der Digitalität neu gedacht werden. Moderner und zeitgemäßer Unterricht hat einige (neue) Voraussetzungen zu erfüllen und ist dadurch alles andere als trivial. Methodisch-didaktische Ebenen müssen plötzlich mit technischen Fragen verbunden werden. Die von Digitalisierungsskeptiker*innen häufig angeführte dünne empirische Studienlage für die positiven Effekte digitaler Geräte im Unterricht vernachlässigt die Tatsache, dass diese nicht nur zur Darstellung von Inhalten oder dem Ersetzen analoger Methoden genutzt werden können (wie das FWU Video im Biologie-Unterricht meiner Schulzeit). Vielmehr geht es darum, spezifische Potenziale digitaler Endgeräte zur Entfaltung zu bringen, um Unterricht um Dimensionen zu erweitern, die früher nicht zu denken waren. Die Grundbegriffe des neuen Unterrichtens lauten Vernetzung, Leitmedienwechsel (vom Buch zur Kultur der Digitalität) und die 4K: Kommunikation, Kollaboration, kritisches Denken und Kreativität.
Die Begrenzungen von Raum und Zeit sind aufgelöst
Durch Tablets etwa können mit der richtigen Software beeindruckende Möglichkeiten der Individualisierung ausgespielt werden. Gleiches gilt für die Dimensionen des handlungsorientierten Produzierens (z.B. die Möglichkeit, einfach und unkompliziert Filme zu erstellen). Nicht zuletzt gelingt die Vernetzung sogar nach außen. Durch schuleigene YouTube-Kanäle und schulübergreifendes Vernetzen von Klassen und Lehrkräften (man denke an das bayerische Lehrkräfte-Tandem aus Sebastian Schmidt und Ferdinand Stipberger, das den deutschen Lehrerpreis im Jahr 2019 für die Vernetzung und Kooperation zwischen Schulen gewonnen hat) sind die Begrenzungen durch Raum und Zeit weitestgehend aufgelöst. Das Internet macht es möglich.
Die Vision der zeitgemäßen Schule verursacht Schwindel
Das Problem dieser neuen Vision von Schule und Unterricht ist, dass all die Veränderungen innerhalb der „alten“ Schranken gedacht und entwickelt werden müssen. Gemeint ist die fragliche Aufteilung der Lehrpläne in Fächer, die Einteilung der Stunden in einen 45-Minuten Takt, das frühe Selektieren nach der 4. Jahrgangsstufe und die Mehrgliedrigkeit durch unterschiedliche Schularten. Eine solche Schule, die immer noch nach Ideen des späten 19. Jahrhunderts organisiert ist, innovativ weiterzuentwickeln und dank digitaler Möglichkeiten an das 21. Jahrhundert heranzuführen, ist eine Herausforderung. Zwischenzeitlich habe ich sogar den Eindruck, dass die Vision einer zeitgemäßen Schule im 21. Jahrhundert zu groß ist, um innerhalb der systemischen Grenzen umgesetzt werden zu können.
Eine besonders diffizile Grenze stellt der Datenschutz dar. Verbote und Graubereiche hemmen wichtige Entwicklungen in den Schulen. Die damit verbundene Unsicherheit führt zum einen bei vielen Kolleg*innen dazu, sich nicht zu trauen, Neues auszuprobieren. Zum anderen hindern Verbote verschiedener Software-Lösungen Schulen daran, wichtige Schritte hin zu einer vernetzten Lernumgebung zu gehen (z.B. bei Office 365). Es ist paradox: Einerseits werden Unterrichtsbeispiele einer digitalen Avantgarde gefeiert und zitiert. Andererseits dürfte vieles unter Datenschutzgesichtspunkten eigentlich nicht stattfinden und wird wohl auch in Zukunft nicht mehr aktiv gefördert. Um im Bild zu bleiben: Der von den Vorreiter*innen besiedelte Wilde Westen bekommt vom verspätet eingetroffenen Sheriff ein Regelkorsett auferlegt, das an vielen Stellen (noch?) undurchsichtig und unausgegoren ist. Die Resultate sind Verwirrung, sinkende Motivation und bei denen, die sich an der Herausforderung abmühen, alle Ansprüche zusammenzubringen, Schwindel und Stolpern.
Alle Beteiligten müssten sich als Lernende begreifen
Hinzu kommt: In Schulen ist es schlicht zu wenig systematisiert, sich auszutauschen und zusammen zu arbeiten. Aufgrund der Unübersichtlichkeit der digitalen Möglichkeiten und der Notwendigkeit, digitale Materialien neu zu erstellen, wären gemeinsame Lösungen aber zwingend nötig. Darüber hinaus scheinen auch Faktoren wie Alter, Weiterbildungsmentalität und letztlich auch die Frage nach einer entwicklungsförderlichen Haltung von Bedeutung zu sein. Irgendwie klingt es ja nach einer Binsenweisheit. Trotzdem ist lange noch nicht allen klar, dass die Digitalisierung den Anspruch nach lebenslangem Lernen mit sich bringt. Und zwar von allen Beteiligten.
Es bräuchte dringend Entlastung
Gründliche digitale Transformation würde für Schulleitungen, Medienkonzeptteams und Fortbildner*innen massive Stundenentlastung erfordern. Man denke nur an die Systembetreuer*innen, die seit Jahren immer mehr und komplexere Netzwerke und Geräteparks in Schulen zu verwalten haben, ohne dass sich die Anrechnung erhöht hätte. Neben einem hohen Unterrichtsdeputat sind schwierige Arbeitsbedingungen mit großen Klassen, hohem pädagogischen Anspruch und immer vielseitiger werdenden Tätigkeiten zu verzeichnen. Zeitliche Ressourcen, um all die Herausforderungen zu meistern, sind kaum vorhanden und können aufgrund der Rahmenbedingungen auch nicht geschaffen werden. Alle Neuerungen der letzten Jahre (neue Lehrpläne, Konzeption schulischer Elternarbeit, das neue Fach Informatik) kommen on top. Gleiches gilt auch für die Digitalisierung, die lange stiefmütterlich behandelt wurde und jetzt mit großer Wucht in ein Schulsystem einschlägt, das ohnehin nicht zur Ruhe kommt. Das alles blockiert die Frage, in welcher Schule wir eigentlich unterrichten wollen, welche Schule unsere Kinder brauchen und welche Schule die richtige Antwort auf das 21. Jahrhundert ist.
Die digitale Spaltung müsste bearbeitet werden
Dass dennoch einige Protagonist*innen schulische Entwicklungsprozesse vorantreiben ist erfreulich und bewundernswert. Schließlich sind sie wie viele andere Kolleg*innen in den Schulen seit Jahren stark be- und überlastet. Ihre Gründe sind sicher vielschichtig und reichen von Idealismus über Karrierestreben bis hin zur unreflektierten Technikbegeisterung. Interessant scheint mir aber vor allem ein Aspekt: Zeitgemäßer Unterricht mit zeitgemäßer Ausstattung wirkt wie eine Art Sehnsuchtsvorstellung. Durch technische Aufrüstung bekommt die Institution Schule die Chance auch nach außen als jung, dynamisch, innovativ, modern und vernetzt wahrgenommen zu werden. Das verstaubte Schulwesen könnte so endlich auf die Höhe der Zeit katapultiert werden. Für Bildungspolitiker*innen ist das ein Wahlkampfschlager. Für Innovator*innen, die schon immer mit dem antiquierten Schulsystem gefremdelt haben, eine Möglichkeit, selbst etwas zur Modernisierung beizutragen. Hin zu der Schule, die sie für richtig halten – voller Freiheit und Kreativität.
Für alle anderen Lehrkräfte, die dieses Entwicklungsbedürfnis nicht nachempfinden können, droht ein fremdgesteuerter Entwicklungszwang hin zu einer Schule, die sie sich (noch) nicht vorstellen können. Beeinflusst von smarten Unternehmen und noch smarteren Geschäftsmodellen, die von vielen nicht gutgeheißen werden. Und ganz konkret bedeutet der digitale Wandel auch die Abkehr von Gewohntem, kostet Zeit und damit auch Anstrengung. Schulleitungen und Lehrkräfte, die keine Kraft mehr für die das Einarbeiten in all die neuen Möglichkeiten haben, drohen technisch, didaktisch und methodisch abgehängt zu werden. Vereinzelt kommen Kolleg*innen schon jetzt nicht mehr mit, wenn in der neuen Berufssprache von „Flipped Classroom“, „shared iPads“ und „digitaler Echtzeitkollaboration“ gesprochen wird. Wenn diese Gefahr nicht bearbeitet wird und Schulen keinen Modus finden, alle Kolleg*innen mitzunehmen, droht deutschen Lehrer*innenzimmern die „digitale Spaltung“.
Digitale Souveränität durch kluges Change Management
Was also tun? Schulen brauchen mehr denn je eine kluge und mutige Strategie, um den Wandel zu gestalten – aufzuhalten ist er ohnehin nicht. Schulleitungen sind die Manager dieser Transformation und sollten sich dieser Rolle nach Möglichkeit schnell bewusst werden. Sie müssen dabei weder alles wissen noch auf jedem Gebiet ein Experte sein. Nachhaltiges Change Management vernetzt und orchestriert alle beteiligten Akteur*innen und regt zur Zusammenarbeit an. Letztlich geht es darum, die Weisheit der Vielen zum Erklingen zu bringen. Und hin und wieder sollten Führungskräfte darüber nachdenken, neue Wege zu gehen und mit innovativen Konzepten für konstruktive Unruhe zu sorgen. Konkret heißt das: Stärken stärken und fortbilden, so gut es möglich ist. Mit innovativen Peer-to-Peer Konzepten lassen sich Potenziale aus den eigenen Reihen multiplizieren und im direkten Austausch vom anderen gelernt werden. Das bislang erfolgreichste Konzept ist das Organisieren von Mikro-SchiLfs: Kleine Häppchen, die von Kolleg*innen für Kolleg*innen angeboten werden. Das funktioniert dann, wenn Regelmäßigkeit sichergestellt ist und das Angebot über einen längeren Zeitraum gehalten werden kann. Gleichzeitig müssen Sachaufwandsträger in die Pflicht genommen werden, Schulen mit zeitgemäßen Mitteln auszustatten. Gerade vor dem Hintergrund der Staatsmittel sollte dies zügig geschehen.
Die digitale Pubertät
Gesellschaftlich könnte man die derzeitige Phase als eine Art „digitale Pubertät“ einordnen. Wir sind dabei mit digitalen Geräten, der Vernetzung, dem Schutz unserer Daten und den neuen Möglichkeiten erwachsen zu werden (irgendwann vielleicht sogar ohne Katzenvideos). Ähnlich pubertär geht es an Schulen zu. Während Skeptiker*innen noch die alten Tugenden hochhalten, verrennen sich die unreflektiert Euphorischen in digitaler Spielerei und verwechseln sie mit Bildung. Worum es geht, ist eine digitale Reife auszuprägen und diese in die Breite zu multiplizieren. Dann liegen die Potenziale auf der Hand. In der Teenager-Pubertät kommt die Reife nach etwas Geduld häufig von alleine. Man könnte sich darauf auch in der Schule verlassen. Sinnvoller erscheint es mir, alle Kräfte zu bündeln und mit viel Muße Entwicklungsarbeit zu leisten. Dann verändert sich vielleicht auch der Schwindel. Erst zum Flow und dann zum guten kontinuierlichen Gefühl souveräner digitaler Gewohnheit.
Veröffentlicht am 12. Februar 2020
Diser Artikel lag heute bei uns im Lehrerzimmer 🙂
Zwei Anmerkungen als Ergänzung:
1) Die Lehrerkollegien sind im Bezug auf den Grad der Digitalisierung sicherlich heterogener als die Schülerschaft. Diese sog. “Digital Natives” sind aber im Bezug auf digitale Medien in der Regel keinerlei “Arbeitshaltung” gewöhnt, da sie diese primär zu Unterhaltungszwecken nutzen. M.a.W. Schüler lesen einfach nicht, was auf dem tollen Display steht, der das analoge schwarze Brett längst ersetzt hat, und auch dass sie die Inhalte per App aufs Smartphone kriegen können, ändert daran erfahrungsgemäß nichts. Selbiges gilt für organisatorische Absprachen über diverse (i.d.R. datenschutztechnisch bedenkliche) Messenger-Dienste. Die 4 K der Kommunikation, Kollaboration, des kritischen Denkens und der Kreativität sind leider an entwicklungspsychologische Entwicklungsvoraussetzungen gebunden, die von einer immer digitaler werdenden Umgebung ganz offensichtlich nicht bereit gestellt werden. Und solange Schule diesen Umstand, für den sich die empirischen Hinweise mehren, nicht zur Kenntnis nimmt und keine konkreten Antworten darauf liefert, können sich weiterhin Avantgardeisten und Digitalisierungs-Skeptiker gegenseitig die Butter vom Brot nehmen, ohne dieses Kernproblem überhaupt berührt zu haben.
2) Die Beobachtung, dass Lehrer*innen hinsichtlich Zusammenarbeit, Austausch und Vernetzung keine idealtypische Berufsgruppe sind, ist plausibel und wird vermutlich von jedem geteilt, der Vergleichsmöglichkeiten zu außerschulischen Arbeitsfeldern hat. M.E. ist das aber ein logisches Resultat einer auf starken Hierarchien beruhenden “Unternehmenskultur” und einer hoffnungslos realitätsfernen Ausbildung, die primär “Einzelkämpfertypen” hervorbringt und i.d.R. von Personen geleistet wird, die den Schuldienst aus eigener Erfahrung kaum kennen oder vor Jahrzehnten hinter sich gelassen haben. Auch dies ist ein strukturelles Problem, an der weder technische Ausstattung, noch Fortbildungen und größeres KnowHow im Umgang mit digitalen Medien etwas zu ändern vermögen.
Guter Artikel und auch gut die Realitäten getroffen! Dieser Artikel sollte heute auf jedem Lehrerzimmertisch liegen zum Studium! Bei Uns liegt er heute auf jeden Fall aus…