Eine Rezension zum gleichnamigen Buch von Björn Nölte und Philippe Wampfler
Die Kritik an der schulischen Notengebung hat eine lange Geschichte und dürfte den meisten Lehrkräften nicht fremd sein. Im pädagogischen Teil des Studiums erfährt man etwa, dass Noten nicht nur nicht das messen, was sie messen sollen, sondern dabei auch noch unpräzise und fehleranfällig sind. Was jedoch in der pädagogischen Diskussion verhältnismäßig unstrittig ist, hat deshalb noch lange keine Auswirkungen auf die Schulpraxis. Und so müssen Lehrkräfte auch heute noch Zensuren vergeben, von denen sie wissen, dass sie Lernprozesse eher behindern als fördern. An dieser Stelle setzen die Autoren Björn Nölte und Philippe Wampfler an, die mit ihrer aktuellen Veröffentlichung „Eine Schule ohne Noten“ sinnvolle Alternativen zu einer fragwürdigen und überholten Praxis aufzeigen wollen.
Der Aufbau des Buches
Das im hep-Verlag erschienene Büchlein ist mit rund 130 Seiten von überschaubarem Umfang. Schon beim Lesen der ersten Seiten wird deutlich, dass es sich mehr um ein „Plädoyer für ein Umdenken“ handelt als um eine weitere wissenschaftliche Abhandlung zur schulischen Notengebung. So führen die Autoren nach einer kurzen Einleitung Beispiele an, wo es Unterricht ohne Noten gibt und wie dieser aussehen kann. Daran anschließend findet sich eine umfangreiche Kritik zur Notengebung, in der die bekannten Effekte (Halo, Pygmalion, Tendenz zur Mitte etc.) zusammengefasst und erläutert werden. Darüber hinaus zeigen Nölte und Wampfler, mit welchen Schritten sich Lehrkräfte vom bewertenden Unterricht lösen können und welche Rolle zeitgemäße Prüfungsformate in einer Kultur der Digitalität spielen. Im letzten Drittel des Buches diskutieren die Autoren Auswirkungen auf das System Schule (z.B. bei Übertrittsentscheidungen), stellen das Dialogische Lernen als didaktisches Modell des notenfreien Unterrichts vor und entkräften zehn Mythen zur Bedeutung von Noten – ganz nach dem am Anfang des Buches zitierten Motto von John Meynard Keynes:
„Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in den neuen Gedanken als in der Befreiung von den alten“ (S. 8).
Lohnt sich die Lektüre?
Der in der Schulaufsicht tätige Björn Nölte und der Deutschlehrer und Fachdidaktiker Philippe Wampfler machen anhand zahlreicher Argumente deutlich, dass Lernen nicht auf Bewertungen angewiesen ist. Wichtiger noch als die bloße Abschaffung des Notensystems ist ihnen jedoch die Veränderung der Lernkultur. Sie zeichnen ein Bild von Schule, in dem Formen von Feedback, Lerngespräche, Kompetenzraster, Portfolio-Arbeiten oder Lerntagebücher eine größere Rolle einnehmen. Im Kontext des Leitmedienwechsels, in dem die Kultur der Digitalität den Buchdruck abgelöst hat, vereinen diese Formen digitales Wissensmanagement mit Elementen der Zusammenarbeit, der Interaktion und der Reflexion. Diese auf Selbstständigkeit und Eigenverantwortung zielenden Unterrichtsarrangements ziehen (fast) zwangsläufig andere Prüfungsformen nach sich und machen das herkömmliche Abfragen von Wissen samt anschließender Bewertung obsolet.
Neu ist an der vorliegenden Veröffentlichung also nicht, dass Notengebung kritikwürdig ist oder unter Berücksichtigung zahlreicher Erkenntnisse zu Lernen, Motivation und Leistung überdacht, wenn nicht sogar abgeschafft gehört. Neu ist vielmehr der gedankliche Bogen zwischen einer veränderten Lernkultur im Spiegel der 4K (Kompetenzmodell für das Lernen im 21. Jahrhundert), einer zeitgemäßen Prüfungskultur, welche diese Kompetenzen berücksichtigt und der Forderung nach Abschaffung der Ziffernnoten, weil es diese im Lichte veränderter Lern- und Prüfungsformen nicht mehr braucht.
„Die Lösung von Bewertungen ist aus unserer Sicht eine Chance für Schulen, eine neue Bestimmung zu finden, sich als Orte zu erfinden, die Lernen ermöglichen, vertiefen, begleiten“ (S. 125).
Fazit
Das Plädoyer „Eine Schule ohne Noten“ thematisiert die spannende Frage, inwiefern sich Prüfungen und Noten praktisch und in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung (u.a. der Zuweisung von Personen auf bestimmte Positionen) unter den veränderten Ansprüchen der Kultur der Digitalität verändern müssen. Neben diesen theoretischen Überlegungen bietet das Büchlein aber auch einige praktische Hinweise – auch wenn diese für meinen Geschmack etwas ausführlicher hätten dargestellt werden können. Mit dem didaktischen Modell des dialogischen Lernens und den Hinweisen auf neue Prüfungsformate rund um Portfolios und Assesments (hier hätte ich mir noch praktische und anschauliche Beispiele gewünscht) liegen Ansätze vor, um sich auch im bestehenden System Schritt für Schritt vom bewertenden Unterricht zu lösen.
Alles in allem können Schul- und Seminarleiter*innen, mit Schulentwicklungsprozessen und didaktischen Fragen beauftragte Personen sowie interessierte Lehrkräfte bedenkenlos zugreifen. Wer die Schule von Morgen mitgestalten will, kommt an den Autoren Nölte und Wampfler sowie am Institut für zeitgemäße Prüfungskultur ohnehin nicht vorbei. Leseempfehlung!
Nölte, B./Wampfler, P. (2021): Eine Schule ohne Noten. Neue Wege zum Umgang mit Lernen und Leistung. Bern: hep-Verlag.
Auf den Seiten des hep-Verlags kann eine Leseprobe heruntergeladen werden.
Die Autoren Björn Nölte und Philippe Wampfler sind Mitglieder des Instituts für zeitgemäße Prüfungskultur e.V.!
Veröffentlicht am 10. Januar 2022
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