Eine Rezension zum gleichnamigen Buch von Ralf Lankau (Hrsg.)
Die digitale Transformation von Schule und Unterricht hat durch die Corona-Pandemie einen enormen Schub erfahren. Das gilt für die Anschaffung von Schüler*innengeräten, die Einrichtung von Lernplattformen und das umfangreiche Angebot an Fortbildungen. Rückblickend können die letzten zwei Jahre durchaus als Digitalisierungsbeschleuniger mit vielen positiven Auswirkungen beschrieben werden. Gleichwohl hat die Krise eher wenig dazu beigetragen, den kritischen Diskurs über die Verheißungen und Gefahren der digitalen Technik in der Schule fortzusetzen. Im vorliegenden Buch „Autonom und mündig am Touchscreen“ wollen Ralf Lankau, Professor an der Hochschule Oldenburg, und andere Autor*innen diese Lücke schließen. In einer Aufsatzsammlung reflektieren sie die digitale Transformation pädagogisch, philosophisch und bildungstheoretisch. Ihr Ziel ist es, einen verantwortungsvollen Einsatz von Digitaltechnik aufzuzeigen, bei dem Emanzipation und Mündigkeit durch konstruktive und produktive Medienarbeit erreicht werden kann.
Der Aufbau des Buches
Das Buch umfasst neben einer Einleitung von Ralf Lankau 13 Aufsätze zur Medienarbeit in der Schule. Die einzelnen Kapitel können dabei isoliert voneinander gelesen werden und bauen nicht aufeinander auf. Thematisch berühren sie Kritisches zur Datenökonomie, Überlegungen zum Unterricht als Beziehungsgeschehen, Reflexionen zur Ausprägung von Kreativität mit und ohne Digitaltechnik, Sorgen um exzessive Mediennutzung bei Kindern, Probleme während des Homeschoolings, Klagen über den Verlust des pädagogischen Kerns der Schule und alternative IT-Konzepte für Schulen unter Berücksichtigung von Datenschutz und Open-Source-Anwendungen. Alle Beiträge sind dabei frei von Digitalisierungseuphorie und blicken mit kritischer Distanz auf Chancen und Probleme in der Alltagspraxis. Mehrere Autor*innen verweisen auf die widersprüchliche Evidenzlage zum Zusammenhang zwischen Digitaltechnik und Lernerfolg und mahnen zu einer kritischen Haltung gegenüber Datafizierungsprozessen, künstlicher Intelligenz und Versprechungen großer IT-Firmen. Zwischen den Kapiteln finden sich zudem kurze Berichte von Eltern, Lehrkräften und Schüler*innen unter dem Titel „Aus der Praxis“, die mit eher negativem Fokus über ihre Erfahrungen im Homeschooling berichten. Das übergeordnete Thema aller Beiträge ist die Frage, inwieweit man sich einem technischen Determinismus beugen und sich von IT-Systemen und Algorithmen steuern lassen muss.
Für wen ist dieses Buch geeignet?
Es fällt mir schwer, den vorliegenden Band bestimmten Personengruppen zu empfehlen. Für Lehrkräfte in der Praxis fehlen umsetzbare didaktische und pädagogische Szenarien. Für Schulleitungen, die in der Verpflichtung stehen, digitale Transformationsprozesse zu gestalten und zu moderieren, fehlen Ideen, die auch abseits kapitalismuskritischer Überlegungen in der Praxis funktionieren. Unterrichtlich merkt man den meisten Autor*innen an, dass ihnen bei zur Gestaltung von Lehr-Lernprozessen unter Berücksichtigung digitaler Möglichkeiten entsprechendes Knowhow fehlt. Demzufolge dürfte auch für Medienpädagog*innen nicht viel dabei sein. Unterm Strich finden sich kaum Anregungen für eine „konstruktive Medienarbeit in der Schule“, obwohl dies so im Buchtitel angekündigt wird. Möglicherweise liegt das auch an der Auswahl der Autor*innen. Immerhin schreiben hier bemerkenswert viele Personen, die nichts oder nur wenig mit der Schulpraxis zu tun haben (z.B. ein Wirtschaftsjournalist, fünf Professor*innen, eine Forschungsreferentin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und eine Psychologin, die sich mit pränataler Ursachenforschung beschäftigt). Das mag per se nichts Schlechtes sein, lässt aber zumindest aufhorchen. Hier wäre vielleicht auch von Verlagsseite etwas mehr Aufmerksamkeit erforderlich gewesen.
Zu guter Letzt kann ich auch aus der Perspektive eines Schulentwicklers nicht erkennen, wem dieses Buch bei der Gestaltung von Praxis nützen sollte. Dazu sind die meisten Einschätzungen schlicht zu radikal und würden ein grundsätzliches Umdenken in der ausgesprochen komplexen digitalen Transformation erfordern.
Fazit
Der vorliegende Band reflektiert und beklagt problematische Entwicklungen der digitalen Transformation theoretisch und aus kritischer und digitalisierungsskeptischer Perspektive. Wer an einer derartigen Reflexion interessiert ist, kann zugreifen. Es stimmt nämlich durchaus, dass diese Perspektiven im allgemeinen digitalen Gestaltungssog etwas untergehen. Und gerade in Auseinandersetzungen im pädagogischen Diskurs könnte es auch manchmal etwas mehr Haltung gebrauchen, die sich gegen eine vermeintliche Alternativlosigkeit im Umgang mit großen Digitalkonzernen ausspricht. Deshalb kann ich dem vorliegenden Band dann doch noch etwas abgewinnen und ihn zumindest all denen empfehlen, die sich kritisch mit Digitalisierung auseinandersetzen möchten – entweder weil sie eine eigene Skepsis prüfen oder bestätigen möchten oder weil sie in verantwortlichen Positionen arbeiten, in denen kritische Positionen gehört und auch verstanden werden müssen. Wer jedoch Anregungen für die konstruktive Gestaltung von Digitalisierungsprozessen in der Praxis sucht, sollte an anderer Stelle nachschauen.
Hier geht’s zum Inhaltsverzeichnis und zur Leseprobe
Lankau, R. (Hrsg.) (2021): Autonom und mündig am Touchscreen. Für eine konstruktive Medienarbeit in der Schule. Weinheim und Basel: Beltz Verlag.
Veröffentlicht am 22. November 2021