Ein Kommentar zur Diskussion um offene Schulen
Der November diesen Jahres läutet mit dem „Lockdown light“ eine Phase der Entschleunigung ein. Mit dem vorübergehenden Herunterfahren einiger Wirtschaftszweige versucht das ganze Land die SARS-CoV-2-Infektionszahlen in kontrollierbare Größenordnungen zu drücken, um sich danach – so die Hoffnung – in eine einigermaßen besinnliche Weihnachtszeit begeben zu können. Weniger besinnlich sind diese Wochen und Monate für deutsche Schulen und Kindergärten, die trotz Infektionsrisiko so lange wie möglich in Vollbesetzung offengehalten werden sollen. Es scheint als hätten die politisch Verantwortlichen nach den eher negativen Erfahrungen der ersten Schulschließungen im März beschlossen, ein solches Experiment nicht noch einmal zuzulassen. Entsprechend will man weder Eltern noch Schüler*innen und Lehrkräften flächendeckend zumuten, auf digitalen Fernunterricht umzusteigen. Nur: Laut der Empfehlung des Robert-Koch-Instituts sollten Schulen ab einem Inzidenzwert von 50 Neuinfektionen auf 100 000 Einwohner pro sieben Tage auf Unterricht in kleineren Gruppen umstellen. Dazu müssten die meisten Klassen geteilt und abwechselnd in Präsenz und digital über die Distanz unterrichtet werden. Obwohl mittlerweile nahezu bundesweit Inzidenz-Werte deutlich über 50 erreicht wurden, trat diese Regelung aber nur sehr selten in Kraft. Fernunterricht wurde lediglich als Notmaßnahme im regional begrenzten Lockdown (z.B. in Berchtesgaden) verordnet oder als Überbrückungsmaßnahme für Schulklassen in Quarantäne verstanden.
Vor Ort bleibt dem schulischen Personal nichts anderes übrig als die Pandemie mit Abstand, Hygiene, Alltagsmasken und Lüften zu bekämpfen (AHA+L), flankiert von kleineren Maßnahmen wie z.B. das Abkleben von Laufwegen, der Organisation zeitlich versetzter Pausen und das Desinfizieren der Tische bei Schüler*innengruppen-Wechsel. Darüber schüttelt ein loses Bündnis aus Eltern, Lehrer*innenverbänden, Gewerkschaften und Beschäftigten an Schulen fassungslos den Kopf. Sie fordern u.a. unter dem Hashtag „Bildung aber sicher“ Unterricht zum Schutz der Gesundheit aller Beteiligten nicht mehr in voller Klassenstärke abzuhalten und organisieren politischen Widerstand gegen den ihrer Ansicht nach fahrlässigen Umgang mit etwa 800 000 Lehrkräften und etwa 11 Millionen Schüler*innen in Deutschland. Folgt man den emotionalen Diskussionen in den sozialen Medien fühlen sich viele Kolleg*innen schlicht „verheizt“, wenn sie sehen, wie überall in der Gesellschaft Kontakte einzuschränken sind, nur in der Schule nicht. Sie haben Angst, weil sie die Enge deutscher Klassenzimmer kennen und wissen, dass es oft nicht ohne Nähe geht. Hinzu kommt, dass die Corona-Krise das Bildungssystem nicht bloß mit dem Thema Gesundheitsschutz herausfordert. Mit der Pandemie sind auch andere Bereiche berührt, etwa der Mangel an Personal, die Bewältigung des Krankenstands, der Umgang mit Quarantäne-Ausfällen und die Erfordernisse der Digitalisierung. Und, dass aufgrund zahlreicher neuer Regelungen ständig alles anders ist.
Entschlossene Führung und Vertrauen in die Schulen vor Ort
Um all das bewältigen zu können, braucht es in diesen Wochen entschlossene politische Führung und Vertrauen in die Schulen vor Ort. Gefragt sind Investitionen und Freiheiten für kluge dezentrale Strategien, um der Komplexität und Wandlungsfähigkeit dieser Pandemie Herr zu werden. Bezogen auf das Infektionsgeschehen an Schulen braucht es eine klare, verlässliche und planbare Ansage seitens der Kultusministerien für Gesundheitsämter, ab einem bestimmten Inzidenzwert auf der Basis verbindlicher Checklisten gemeinsam mit den Schulen die Bedingungen des hybriden Unterrichtens abzuklären. Die dann getroffenen Entscheidungen müssen transparent und erwartbar sein, damit sich alle Mitglieder der Schulfamilie darauf vorbereiten und einstellen können. Und es wäre wichtig, dass Schulen die Freiheit bekommen, nach eigenem Ermessen auf Hybrid- und Fernunterricht umzustellen, wenn fundierte Konzepte erarbeitet wurden und die entsprechende technische Ausstattung verfügbar ist – nach Absprache mit der Schulfamilie, vielleicht sogar auch nur für einzelne Lehrkräfte, bestimmte Klassen oder Schüler*innengruppen. Mit dieser Flexibilität könnten Schulen präventiv mit dem Infektionsrisiko umgehen, und nicht erst reagieren, wenn es eigentlich schon zu spät ist.
Bei derartigen Freiheiten muss jedoch darauf geachtet werden, dass Schulleitungen mit dieser Verantwortung vor Ort nicht allein gelassen werden, zum Beispiel bezüglich möglicher Haftungsrisiken. Dazu sollten sie auf Rückendeckung von Kultusministerien und Bezirksregierungen zählen können, wenn sie im Einvernehmen mit dem Gesundheitsamt eine Entscheidung treffen, die von irgendeiner Stelle angefochten wird. Schulleitungen kommt vor Ort eine zentrale Rolle zu, um die sie zurzeit niemand beneiden dürfte. Sie müssten mehr noch als vor der Pandemie eine strukturelle und personelle Aufwertung ihres Postens erfahren.
Schulen brauchen so viel Unterstützung wie möglich
Wenn Politiker*innen stellvertretend für eine Gesellschaft entscheiden, Schulen in dieser schwierigen Zeit offen zu lassen, sollten diese so viel Unterstützung erfahren wie nur möglich. Den Akteur*innen vor Ort muss zugehört werden, wie es beim bayerischen Schulgipfel am 4.11.2020 der Fall war. Es gilt, die Autonomie der einzelnen Schule und damit die handelnden Personen vor Ort in ihren Entscheidungsspielräumen zu stärken. Sinnvoll erscheint mir z.B. eine Möglichkeit der Befreiung von der Präsenzpflicht im Falle einer eigenen Vorerkrankung oder einer Person mit Risikogruppenzugehörigkeit im gleichen Haushalt. Ebenso sollten Lehrkräfte in diesen Zeiten auf Lehrplanbereiche, Prüfungen und Zensuren nach Absprache mit dem Kollegium verzichten können. Vorrückungsfragen sowie dienstliche Beurteilungen und externe Evaluationen dürfen in diesen Zeiten keine Priorität haben. Alles, was „Druck aus dem System“ nimmt, sollte jetzt ermöglicht bzw. weggelassen werden.
Zudem wünsche ich mir, dass alles Mögliche in die Wege geleitet wird, um Klassenzimmer mit Luftfiltern und CO2-Geräten auszustatten, Kolleg*innen und Schüler*innen mit FFP2-Masken zu versorgen und digitale Endgeräte für Schüler*innen stärker zu fördern als es bislang der Fall war. Mit diesen Maßnahmen könnten Schulen zu einem Ort werden, an dem alle Beteiligten der Pandemie etwas gelassener ins Auge blicken könnten. Die individuelle Betroffenheit darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, auch wenn Schulen um Normalbetrieb bemüht sind. Gesamtgesellschaftlich dürfte es ohnehin keine bessere Alternative geben. Außerdem waren Schulen seit März nicht untätig: Sie haben eine Menge dazugelernt, Konzepte entwickelt, in Ausstattung und Fortbildung investiert und in vielen Bereichen experimentiert. Nun hat man ihnen politisch eine gewichtige Rolle aufgebürdet und sie für die „zweite Welle“ als systemrelevant eingestuft. Ob sich dieses Vorgehen als richtig erweist, kann derzeit ohnehin niemand beurteilen. Möglicherweise muss die Strategie auch noch einmal angepasst werden, vielleicht geht sie in manchen Regionen auf, in anderen nicht. Aber vorstellen kann ich es mir, dass Schulen Orte sind, an denen man der Komplexität der Pandemie souverän entgegentritt.
Veröffentlicht am 10. November 2020
Titelphoto: Vadzim Kushniarou via www.iStockphoto.com
Lieber Joscha,
wieder ein hervorragender Kommentar, der es auf den Punkt bringt.
Auch ich vermisse als Lehrerin den Lerneffekt, der aus dem ersten lockdown möglich gewesen wäre. Es sollten keine Energien darauf verwendet werden, dass möglichst „alles so ist bzw. wird wie früher.“ Die momentane Situation kann und muss eine Chance sein, lernen und Unterricht neu zu denken. Jetzt MUSS im Zuge der Gesundheit die Bildungssituation, also sowohl Inhalte wie auch Personal und äußere Gegebenheiten, neu bewertet und überdacht werden. Dies muss meiner Meinung nach schnell, unkompliziert und flexibel geschehen, da es um die physische und psychische Gesundheit von Lehrern*innen und Schülern*innen geht. Hierzu brauchen Schulleitungen jede zur Verfügung stehende Unterstützung. Das „Schlagwort“ Digitalisierung sollte umgehend mit Leben gefüllt werden und darf nicht als Damoklesschwert über den Schulen und Elternhäusern schweben.
Lieber Kollege Joscha Falck, vielen Dank für deinen treffenden und die Situation sehr gut analysierenden Kommentar. Ich hoffe wirklich, dass noch genug Zeit bleibt, um Weichen zu stellen – ich befürchte allerdings, dass es bereits zu spät ist. Die Weichen hätte man im Sommer stellen müssen, niemals in einen Regelbetrieb in dieser Art und Weise starten, niemals die Warnungen ignorieren dürfen . K1, Mittelstufe an einem Gym, hat sage und schreibe keine einzige Sekunde seit Schulbeginn im September damit verbracht, notwendige digitale Kompetenzen zu erarbeiten. Zwar mit einem Zugang zu MS Teams ausgestattet, wurde das Programm bis heute nie gestartet, nie erklärt, nie damit gearbeitet – geschweige denn, dass andere Tools mal ins Blickfeld gekommen wären. Den Digitalisierungsschub, den das hätte auslösen können, hat man mit der Ignoranz und der Sturheit, einen Regelbetrieb in maroden Verhältnissen und der Folge komplett überarbeiteter Kolleginnen und Kollegen (Lehrkräftemangel!) durchzuboxen , komplett zum Erliegen gebracht. Fernunterricht, wenn er denn kommt, und davon gehe ich mittlerweile aus, wird wieder einer kleinen Minderheit vorbehalten bleiben, den Schülerinnen und Schülern, deren nerdige Lehrkräfte einfach selbst das tun was richtig erscheint, der Rest wird genauso stümperhaft versorgt werden wie beim ersten Mal. So stümperhaft wie unsere Regierung letztendlich die Zeit im Sommer mit der Erstellung von mittlerweile abgeschafften Plänen A und B verbracht hat. Einen Plan C gibt es nicht mehr.
Bleib gesund und pass auf dich auf!