Rezension zu „Nexus“ von Yuval Noah Harari
Kaum ein Buch hat mich in diesem Jahr (2024) so nachdenklich zurückgelassen wie „Nexus“ von Yuval Noah Harari. Nach den Bestsellern „Homo Deus“ und „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ widmet sich der israelische Historiker und Starintellektuelle der Geschichte und Bedeutung von Informationsnetzwerken von der Steinzeit bis hin zur künstlichen Intelligenz.
Worum geht es?
Harari zeichnet in “Nexus” auf ca. 550 Seiten die Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz nach. Bei diesem historischen Abriss streift er u.a. den Buchdruck, die Hexenverfolgung, die Industrialisierung und verschiedene Stationen des 20. Jahrhunderts. Ein weiterer Schwerpunkt liegt darauf, welche Rolle Informationen und Informationsnetzwerke in Demokratien und totalitären Systemen spielen. Darüber hinaus untersucht Harari die Wesensmerkmale des anorganischen Informationsnetzwerks, also dem Netzwerk der Computer. Er schreibt sinngemäß: Durch die größer werdende Macht von Computern entsteht ein völlig neues Informationsnetzwerk, das zum Dreh- und Angelpunkt (Nexus) der Menschen wird.
Des Weiteren diskutiert er zahlreiche Szenarien, wofür diese algorithmisch geprägten Netzwerke in totalitären Systemen genutzt werden bzw. zukünftig genutzt werden könnten. Angesichts dessen wundert es nicht, dass der Autor selbstlernende Algorithmen als Gefahr für die Demokratie sieht. Als Gegenstrategie (eine Art KI-Schild) verweist er auf die Spielräume der politischen Regulierung.
Zentrale Begriffe und übergeordnete Gedanken
Laut Harari ist die Entwicklung der künstlichen Intelligenz in erster Linie eine Informationsrevolution. Unklar ist allerdings, ob diese Revolution auch automatisch mehr Wahrheiten und daraus resultierende Weisheit nach sich zieht. Schließlich geht nur das im Buch beschriebene naive Informationsverständnis davon aus, dass genug Information zu Wahrheit führt und diese Wahrheit der Macht und der Weisheit dienlich ist. Angesichts der technischen Entwicklungen muss KI nach der Meinung des Autors als Akteur (nicht als Werkzeug) beschrieben werden, da KI-Systeme eigene Entscheidungen treffen können.
Schon heute könne man seiner Einschätzung nach beobachten, dass diese Eigenständigkeit Computer-zu-Computer-Ketten ermögliche. Damit entsteht ein neues anorganisches Computernetzwerk, in dem Computer miteinander kommunizieren. Ähnlich wie bei intersubjektiven Wirklichkeiten bei Menschen können Intercomputer-Wirklichkeiten in der Kommunikation von Computern entstehen, die wiederum die physische Wirklichkeit beeinflussen.
International könnten die KI-Entwicklungen laut Harari zu einer Art Silicon Curtain führen, der die Welt in zwei oder mehr Blöcke/digitale Einfluss-Sphären aufteilt. Diese Sphären sind als digitale Kokons abgeschlossene Informationsnetzwerke. Globale Verständigung würde so erheblich erschwert. Als Ansatzpunkt verweist der Autor auf Mechanismen der Selbstkorrektur, wie man sie aus der Wissenschaft kennt, z.B. durch Rückkopplungsschleifen.
Fazit: Leseempfehlung
Harari will dafür sensibilisieren, dass KI uns alle etwas angeht. Neue Computer-zu-Computernetzwerke (also Informationsnetzwerke ohne menschliche Beteiligung) werden unser zukünftiges Leben auf vielfältige Art prägen. Der Autor beschreibt mögliche zukünftige Entwicklungen und warnt so vor Effekten, die sich die meisten von uns aktuell noch nicht (oder kaum) vorstellen können (z.B. dass KI-Akteure in das Finanzsystem eingreifen oder eine eigene Religion entwickeln). Zudem appelliert er an unsere politischen und gesellschaftlichen Gestaltungsmöglichkeiten. Er sieht Geschichte nicht deterministisch, wir können die Richtung der Entwicklungen beeinflussen.
Alles in allem ist „Nexus“ Analyse und Appell zugleich und hilft uns, die aktuelle KI-Revolution in ihren großen Linien zu verstehen. Zudem ist das Buch spannend und gut verständlich geschrieben, sodass auch KI-Einsteigerinnen und Einsteiger nicht zurückschrecken müssen. Und geschichtlich interessierte Leserinnen und Leser können bei Harari ohnehin nicht viel falsch machen. Eine klare Leseempfehlung!
„Die Erfindung der KI ist potenziell bedeutsamer als die Erfindung des Telegrafen, des Buchdrucks, oder sogar der Schrift, denn die KI ist die erste Technologie, die in der Lage ist, selbstständig Entscheidungen zu treffen und Ideen zu entwickeln. (…) In den kommenden Jahren werden alle Informationsnetzwerke – von Armeen bis zu Religionen – Millionen neuer KI-Mitglieder gewinnen, die ganz anders mit Daten umgehen als wir Menschen. Diese neuen Mitlieder werden anders geartete Entscheidungen treffen und anders geartete Ideen entwickeln, das heißt Entscheidungen und Ideen, auf die wir Menschen wahrscheinlich nicht kommen. Dieser Zuwachs an andersartigen Akteuren wird zwangsläufig die Form von Armeen, Religionen, Märkten und Nationen verändern. Ganze politische, wirtschaftliche und soziale Systeme könnten zusammenbrechen, und neue werden an ihre Stelle treten. Deshalb sollte künstliche Intelligenz auch für all jene Menschen von größter Dringlichkeit sein, die sich nicht für Technologie interessieren und glauben, dass die wichtigsten politischen Fragen das Überleben der Demokratie oder die gerechte Verteilung des Wohlstands betreffen.” (S. 545)
Quelle: Harari, Yuval Noah (2024): NEXUS: Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz. Penguin Verlag.
Veröffentlicht am 10. Dezember 2024