Ein Gespräch mit Christina Roth über die Bewerbung zum deutschen Schulpreis, das Konzept der KERN-Stunden und notwendige Veränderungsprozesse an Schulen
Die Johannes-Kern-Mittelschule im mittelfränkischen Schwabach hat sich mit einem überzeugenden Konzept für den Deutschen Schulpreis 2023 beworben und ist für die Auswahl der besten 20 Schulen nominiert. Im Zentrum stehen dabei die sogenannten KERN-Stunden, in denen kompetenzorientiert, eigenverantwortlich, reflektierend und mit neuen Medien gelernt wird. Diese Art des Unterrichtens ist seit September 2022 in allen Jahrgangsstufen und Klassen der Schule eingeführt und wird fortlaufend evaluiert.
Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie dieses Konzept in der Unterrichtspraxis aussieht, habe ich mit Christina Roth gesprochen. Christina ist Lehrerin an der Johannes-Kern-Schule und war maßgeblich an der Entwicklung der Konzepts zum selbstgesteuerten Lernen beteiligt.
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Liebe Christina, zusammen mit deinem Kollegium hast du dich auf den Weg gemacht, um Unterricht anders zu gestalten. Kannst du kurz umreißen, auf welchen Säulen euer Konzept basiert?
Ausgangslage unserer Schulentwicklung war das Bestreben, die Schüler*innen auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorzubereiten. Wir haben also die sogenannten 21st century skills (siehe z.B. hier, Anmerkung J.F.) in den Fokus gerückt. Dabei war für uns besonders bedeutsam, ein Unterrichtskonzept zu entwickeln, das Eigenverantwortung in Kombination mit den digitalen Medien schult. Aber auch das stetige Reflektieren über den Lernprozess, das Arbeiten im Team und das Erwerben allumfassender Kompetenzen über den reinen Wissenszuwachs hinaus waren uns wichtig. Daraus sind unsere sogenannten KERN-Stunden entstanden. (K für Kompetenz, E für Eigenverantwortung, R für Reflexion und N für Neue Medien).
Wie gelingt es dir und euch, selbstgesteuertes Lernen so anzuleiten bzw. zu ermöglichen, dass effektiv gearbeitet wird?
Eine große Rolle spielt hier das Feedback. Die Schüler*innen erhalten auf unterschiedliche Weise Rückmeldung zu ihrem Handeln im Unterricht. Das kann in der Peergroup selbst stattfinden, auf Grundlage einer Selbsteinschätzung oder ich als Lehrkraft schalte mich in den Lernprozess mit ein. Hier führen wir entweder Reflexionsgespräche oder geben Rückmeldung mit digitalen Tools.
Kannst du konkret beschreiben, wie eine KERN-Stunde (wahrscheinlich besser eine KERN-Lerneinheit) aufgebaut ist? Wie äußert sich das im Stundenplan? Wie wird gearbeitet?
Jede Klasse hat mindestens fünf KERN-Stunden pro Woche. Ein solche Stunde ist so aufgebaut, dass die Schüler*innen hier komplett selbstständig arbeiten. Wir als Lehrkräfte fungieren lediglich als Lernbegleiter*innen. So werden Lerninhalte über Texte, Internetrecherchen, Erklärvideos, Podcasts etc. in Eigenverantwortung erarbeitet und in einer selbstgewählten Form festgehalten. So wie es den Lernenden dienlich ist. Also nicht als von der Lehrkraft vorbereiteter Hefteintrag, sondern beispielsweise als Mindmap, Tabelle oder Grafik. In den KERN-Stunden wird aber auch bereits Erlerntes geübt und vertieft. Es entstehen Lernprodukte wie Portfolios, Präsentationen, selbsterstellte Audios usw. Wichtig ist hier, dass vorzugsweise im Team gearbeitet wird. Es gibt keinen individuellen Lernplan, wie man es beispielsweise aus Lernbüros kennt, in denen die Schüler*innen dann in Einzelarbeit ihre Aufgaben erledigen. Wir möchten, dass gemeinsam gelernt und gearbeitet wird.
Welche Rolle spielen dabei digitale Tools?
Das Ziel ist es, in den KERN-Stunden digitales und analoges Arbeiten in Einklang zu bringen und die jeweiligen Vorteile für den Lernprozess zu nutzen. Die Bereitstellung der Aufgaben findet mit der digitalen Pinnwand Padlet oder der Lernplattform LearningView statt. Das ermöglicht den Schüler*innen, in ihrem eigenen Tempo zu arbeiten und nicht von den Zeitangaben einer Lehrkraft abhängig zu sein. Dabei spielen auch von der Lehrkraft selbst erstellte Lernvideos eine Rolle, die die Schüler*innen in die Lage versetzen, sich den Lerninhalt jederzeit und unabhängig von Zeit und Ort noch einmal erklären zu lassen. Diese stehen dann natürlich auch den Eltern zu Hause zur Verfügung, die ihre Kinder dann auch deutlich besser unterstützen können.
Wie verändert diese Art zu arbeiten deine Rolle als Lehrerin?
Ich musste hier meine Rolle als Lehrerin neu definieren. Ich bin nicht mehr die Wissensvermittlerin, die in erster Linie den Lernprozess der Schüler*innen anleitet, ich werde – wie vorhin schon kurz angesprochen – zur Lernbegleiterin. Ich stehe für Fragen zur Verfügung, gebe Feedback und motiviere.
Hat diese Art zu arbeiten deinen Blick auf Schule insgesamt verändert, vielleicht auch dein Empfinden gegenüber Schule und deiner Arbeit dort?
Die größte Erkenntnis für mich war: “Nur weil etwas wie Lernen aussieht, heißt es noch nicht, dass es lernwirksam ist.” Im klassischen Frontalunterricht habe ich durch die direkte Kommunikation mit Einzelnen oder durch das Abschreiben meines vorgefertigten Hefteintrags das Gefühl, der Lernprozess wäre erfolgreich. Dies ist aber oft nur ein Trugschluss, denn was in den Köpfen der Schüler*innen tatsächlich geschieht, ist von außen nicht erkennbar. In selbstgesteuerten, eigenverantwortlichen Lernprozessen ist mindestens die aktive Auseinandersetzung der Schüler*innen mit dem Lerngegenstand weitestgehend gewährleistet, denn jeder Einzelne wird hier zum Produzenten statt zum Konsumenten.
Ansonsten fühle ich mich in meiner direkten unterrichtlichen Tätigkeit deutlich weniger gestresst. Ich bin nicht mehr der Mittelpunkt einer jeden Unterrichtsstunde, kann Schüler*innen enger begleiten und besser beobachten. Unterrichtsstörungen verhindern nicht mehr die Lernprozesse aller Schüler*innen. Im Frontalunterricht nehmen Störungen einen sehr großen Raum ein und stoppen den Unterrichtsfluss. In den KERN-Stunden kann ich das Verhalten mit dem jeweiligen Schüler/ der jeweiligen Schülerin unter vier Augen klären und alle anderen sind in der Lage weiterzuarbeiten, was die echte Lernzeit deutlich erhöht.
Würdest du auch sagen, dass euer „Aufbruch“ Veränderungsprozesse im Kollegium losgetreten hat, z.B. in der Art wie ihr zusammenarbeitet?
Wir haben auf jeden Fall unsere schulhausinterne Fortbildung weiter ausgebaut. Zur Einführung haben wir beispielsweise einen Workshoptag mit Best-Practice-Beispielen veranstaltet. Diesen möchten wir etablieren. Außerdem haben wir die kollegiale Hospitation in Angriff genommen, die wir auch zukünftig weiter ausbauen möchten.
Ich kann mir vorstellen, dass du auch noch andere Ideen hast, wie Schule „umgebaut“ werden müsste, um zukunftsfähig aufgestellt zu sein. Hast du schon den nächsten Schritt im Blick?
Im nächsten Schuljahr würde ich meinen Schüler*innen gerne noch mehr anbieten, Leistungsnachweise zu einem selbstgewählten Zeitpunkt abzulegen. So kann die Individualität jedes Einzelnen noch mehr berücksichtigt werden. Auf die Arbeit der gesamten Schule gesehen würde ich mich über die Einführung des FREI DAY freuen (weitere Infos hier, Anmerkung J.F.). Ich denke jedoch, wir sollten uns zunächst auf die qualitätsvolle Arbeit in den KERN-Stunden konzentrieren. Erst wenn diese garantiert ist, können wir den nächsten Schritt gehen.
Siehst du auch Ansatzpunkte, die jenseits der eigenen Schule bearbeitet werden müssten?
Wenn ich ganz groß denken dürfte, gäbe es einiges, auf das wir einen sehr kritischen Blick werfen und Alternativen ausprobieren sollten. In meinen Augen wäre es sinnvoll, folgende Grundpfeiler zu überdenken und zu hinterfragen: Das dreigliedrige Schulsystem mit einer zusätzlichen Selektion durch die M-Klassen, Unterrichtseinheiten im strikten 45-Minuten-Takt, jahrgangseinheitliche Lerngruppen und das Notensystem. Ein großer Schulversuch, der all diese Dinge auf den Kopf stellt, wäre mein großer Traum. Ich bin überzeugt, dass wir eigentlich das große Ganze verändern müssten, um Schule zukunftsfähig zu machen. Das Fundament stimmt meiner Meinung nach nicht mehr mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts überein.
Was würdest du einem Kollegen/einer Kollegin empfehlen, der/die ebenfalls in einen wirklich kompetenzorientierten Unterricht einsteigen möchte. Wo könnte er/sie anfangen?
Ich glaube, dass viele gute Ideen in den Köpfen der Kolleg*innen herumschwirren. Ich würde jedem/jeder raten: Sei mutig! Probiere aus! Nimm Scheitern in Kauf! Nur so kann man die wirklich guten Dinge entwickeln. Wenn man dann konkret starten möchte, würde ich so inhaltsarm wie möglich beginnen, damit man die Arbeitsweisen erst einmal ohne inhaltliche Herausforderung eintrainieren und stetig steigern kann.
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für dich und deine Schule!
Christina Roth ist Mittelschullehrerin an der Johannes-Kern-Schule in Schwabach. Darüber hinaus ist sie Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Schulpädagogik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen/Nürnberg sowie als Fortbildnerin im Bereich des selbstgesteuerten Lernens und der digitalen Bildung tätig. Kontakt: christina(dot)roth(at)schule(dot)bayern(dot)de
Alle Grafiken wurden mit Canva erstellt.
Weiterführende Links
Schulhomepage der Johannes-Kern-Mittelschule Schwabach
Filmbeitrag des Bayerischen Rundfunks über die Arbeit an der Johannes-Kern-Mittelschule in Schwabach
Homepage des Deutschen Schulpreises
Veröffentlicht am 29. Juni 2023
1 thought on “Wir müssten das große Ganze verändern, um Schule zukunftsfähig zu machen”