Erste Schritte in einer Unterrichtskultur des Abstandhaltens
Die Corona-Krise ist mit der Teil-Rückkehr des öffentlichen Lebens in eine neue Phase eingetreten. Die Strategie lautet, zu einem kontrollierten Alltag mit SARS-CoV-2 zurückzufinden: Soviel Öffnung wie möglich, soviel Einschränkung wie nötig. Davon sind auch die Schulen betroffen, die im gesamten Bundesgebiet nach und nach mit dem Präsenzunterricht beginnen. Dieser findet unter massiven Einschränkungen und unter Berücksichtigung diverser Hygienemaßnahmen statt. Es steht zu befürchten, dass dieser Unterricht nicht mehr viel mit dem Unterricht vor der Krise zu tun hat. Und es dürfte schwierig werden, unter diesen Umständen guten Unterricht zu halten. Die Schüler*innen sind in verkleinerten Gruppen zwar gemeinsam in der Schule, gearbeitet wird jedoch alleine, Partner- und Gruppenaufarbeiten sind nicht zulässig.
Für Lehrkräfte setzt sich damit die Herausforderung des Fernunterrichts insofern fort, als dass Unterrichtskonzepte des kooperativen und geöffneten Unterrichts nicht durchführbar sind. Erste Berichte lassen befürchten, dass es einen massiven Rollback in den sogenannten fragend-entwickelnden Unterricht gibt, der gerne als Frontalunterricht verunglimpft wird. Dieses Konzept kann zielführend und sehr effektiv sein, wenn es gut gemacht und in einen Wechsel der Sozialformen und Methoden eingebettet ist (beides fällt jetzt weg). In den meisten Fällen dürfte es lediglich aus dem Prinzip Vormachen und Nachmachen mit Schulbuch und Arbeitsblatt bestehen, was zu gähnender Langeweile und Unzufriedenheit in den Klassenzimmern führen dürfte.
Ich denke: Das kann nicht unser Anspruch sein – vor allem nicht nach einer Phase des vielerorts kreativen Fernunterrichts, der mit digitalen Ideen und einer großen Portion Selbsttätigkeit aufwartete.
Meines Erachtens stehen Lehrkräfte jetzt vor der schwer zu lösenden Herausforderung, einen motivierenden, kreativen und lernwirksamen Einzelunterricht zu organisieren, der räumlich zwar als Unterricht am Einzelplatz organisiert ist, aber dennoch Elemente der Kooperation, der Kommunikation und der Kreativität aufweist. Für das Lernen zu Hause, das sich vermutlich noch einige Zeit fortsetzen wird, liegen bereits zahlreiche tolle Ansätze und mittlerweile auch Erfahrungswerte vor. Für den Präsenzunterricht und das kombinierte Lernen zu Hause und in der Schule (blended Learning) bedarf es einer Weiterentwicklung dieser Konzepte. Dazu braucht es in den nächsten Monaten eine Welle an guten Ideen für die veränderte Lehr-/Lernkultur des Abstandhaltens. Es braucht eine Didaktik der Distanz (und der Distanzüberwindung) sowie Digitalisierungsvorstöße, die den Fokus auf die Lernenden richten. Ansätze dazu sollen im Folgenden umrissen werden.
Beziehungen gestalten
Die Phase der Schulschließung hat gezeigt, dass es weniger die Aufgaben waren, die fehlten. Die Beschäftigung mit Stoff konnte in sehr vielen Fällen auch über die Distanz organisiert werden. Vielmehr fehlten die persönliche Begegnung, die Betreuung, das direkte Gespräch und das Zuhören. Mit der Öffnung der Schulen kehrt all das zurück und kann, egal wie trist das Abstandhalten sein mag, in den Mittelpunkt der Arbeit gestellt werden. Die Schule erwacht damit als sozialer Raum wieder zum Leben. Schüler*innen brauchen jetzt Zeit im Unterricht, um von den Erfahrungen des „Homeschoolings“ zu erzählen und sie zu verarbeiten (etwa in Schreibübungen, angeleiteter Reflexion oder im direkten Gespräch). Und sie brauchen Lehrkräfte, die ihnen angesichts der apokalyptischen Bilder der Pandemie Zuversicht vermitteln und sie mit den nötigen Informationen versorgen, wie die aktuelle Lage zu bewerten ist. Es erscheint mir wichtig, Leistungsnachweise und Vorwürfe zu Versäumnissen der letzten Wochen zurückzustellen, auch wenn der Stoff in vielen Fällen schnell wieder im Vordergrund stehen dürfte. Stattdessen braucht die persönliche Begegnung einen dafür vorgesehenen didaktischen Ort und ausreichend Zeit. Das gilt freilich auch für das Sprechen über die jetzt gültigen Regeln, das Einhalten der Hygienemaßnahmen und wie es uns mit all dem (als Mensch) eigentlich geht.
Unterricht entwickeln
Darüber hinaus sollten wir auch inhaltlich nicht einfach zurück zu alten Mustern. Während der letzten Wochen waren Schüler*innen in den meisten Fällen auf sich allein gestellt. Aus der Rückmeldung meiner eigenen Klasse (Jahrgangsstufe 9, Mittelschule) weiß ich, wie sehr die Möglichkeiten zur Selbstorganisation und Selbstbestimmung geschätzt wurden. Meines Erachtens sollten wir auf diese Erfahrung aufbauen und einen Unterricht organisieren, der ein hohes Maß an Selbsttätigkeit erlaubt. Das erfolgreiche Konzept der Wochenplanarbeit kann im Präsenzunterricht fortgesetzt (oder jetzt auch dort eingeführt) werden und bei jüngeren oder schwächeren Schüler*innen durch Tagespläne ergänzt werden. Darüber hinaus eignen sich Lerntagebücher, Portfolio-Arbeiten und größer angelegte Settings wie Projekt- bzw. Leittextaufgaben – auch fächerübergreifend. Entscheidend dabei ist die Freiheit, wann welche Aufgabe wie bearbeitet wird. Entscheidend ist aber auch, wie abwechslungsreich, schülerorientiert und kreativ die Aufgaben gestaltet werden. Hinzu kommt die geschickte Moderation der Plenumsphasen, eine entsprechende Rhythmisierung des Schultages sowie entsprechende Möglichkeiten des wechselseitigen Feedbacks. Am einfachsten lassen sich diese Ansätze in Schulen umsetzen, die ohnehin mit dem Klassenlehrer*innenprinzip arbeiten. Andere Schulen wären gut beraten, über die Organisation einer Bezugsperson pro Klasse nachzudenken, die mehr als bisher in dieser Klasse unterrichtet.
Stehen für den Präsenzunterricht digitale Endgeräte sowie ein leistungsfähiger W-Lan Ausbau zur Verfügung, dürfte sich vieles einfacher gestalten lassen. Auf diesem Weg könnten die digitalen Arbeitsweisen des Fernunterrichts direkt ins Klassenzimmer übertragen werden, möglicherweise sogar mit derselben Struktur (Cloud-Ablage für Arbeitsmaterial, Kurse innerhalb einer digitalen Lernumgebung, online-basiertes Lernen etc.). Das böte den Vorteil, Schüler*innen, die zu Hause bleiben (müssen), mit einbinden zu können. Stehen keine schuleigenen Geräte zur Verfügung, kann bei älteren Schüler*innen mit Privatgeräten gearbeitet oder wenn möglich auf den PC-Raum ausgewichen werden. Hinzu kommt, dass die Nutzung von PCs, Tablets oder auch Smartphones die Einzelarbeit deutlich abwechslungsreicher machen dürfte. Eingebunden werden kann all das, was sich auch in den letzten Jahren bewährt hat: Padlets, Etherpads, Mentimeter, Quizlet, Learningapps, Anton, Bettermarks, der Bookcreator, Kurse via Mebis (bayerische Lernplattform), YouTube, Kahoot, H5P-Übungen und vieles mehr. Die zentralen Stärken des digitalen Arbeitens kämen weiter zum Tragen und würden unter dem Gebot des Abstandhaltens noch bedeutsamer: Individualisierung, Kooperation, Feedback und Kreativität – auch unter den Bedingungen der räumlichen Distanz.
Schulentwicklung in den Blick nehmen
Während die allermeisten Lehrkräfte seit vielen Wochen ihr Bestes geben, zeigt sich in den Medien eine Tendenz zum Bejammern des Fernunterrichts. Dieser, so heißt es, hätte in weiten Teilen nicht funktioniert, würde schwächere Schüler*innen abhängen und die Eltern überlasten. Das mag durchaus in einigen Fällen zutreffen. Dennoch erscheint es mir sinnvoller, die Lehren aus dieser Zeit zu ziehen und die Erfahrungen zu Chancen für die Zeit danach zu machen. Schuld an den Versäumnissen der letzten Jahre, die nun im Fernunterricht besonders deutlich geworden sind, ist das Bildungssystem an sich, nicht etwa die einzelnen Lehrkräfte. Diese können und dürfen in dieser Situation nicht verantwortlich gemacht werden. Im Gegenteil: Nie zuvor hat die Digitalisierung des Schulbetriebs einen derartigen Schub erlebt. Nie zuvor waren Lehrkräfte gezwungen, unterrichtliche Arbeit völlig neu zu organisieren. Und nie zuvor wurde deutlicher, welche Möglichkeiten in der Vernetzung liegen. Jetzt kommt es darauf an, diese Erkenntnisse in Prozesse der Schulentwicklung zu übersetzen. Dabei erscheinen mir drei Dinge zentral: Fortbildung durch Zusammenarbeit, digitale Lernumgebungen und von der Schule gestellte Schüler*innengeräte.
Fortbildung durch Zusammenarbeit
Die Phase der Schulschließung kann meines Erachtens als Modellversuch gesehen werden, der alle Lehrkräfte zeitgleich vor gleiche Herausforderungen stellte. Reflexhaft wurden Konferenzen einberufen, um gemeinsame Vorgehensweisen abzusprechen, Wege der Kommunikation und der Materialversorgung sowie der virtuellen Begegnung einzufädeln. In vielen Fällen schloss man sich zur Materialerstellung zusammen und die besten Ideen wurden geteilt und von anderen übernommen. Diese Erfahrung gilt es jetzt auf andere Bereiche schulischer Herausforderungen zu übertragen. Vorstellen kann ich mir den regelmäßigen Austausch zum digitalen Arbeiten im Videochat (Mikro-SchiLf), die gemeinsame Teilnahme an Webinaren oder das kollaborative Erstellen von Unterrichtsmaterial nach den 4K, das den Schwerpunkt auf Selbsttätigkeit legt.
Digitale Lernumgebungen
Hinzu kommt die Notwendigkeit, digitale Lernumgebungen einzurichten. Der Fernunterricht hat deutlich gemacht, wie zentral ein Software-Paket ist, dass einen Cloud-Speicher, eine (Video-)Chat-Funktion sowie Möglichkeiten zum kollaborativen Arbeiten bietet. Schulen und Sachaufwandsträger sollten den Rollout solcher Plattformen, sofern es noch nicht geschehen ist, jetzt in die Wege leiten. Da wir mittlerweile wissen, dass die Mehrzahl der Schulklassen noch einige Zeit im Fernunterricht arbeiten wird sowie eine zweite Infektionswelle nicht ausgeschlossen werden kann, wäre ein weiteres Improvisieren unter Missachtung der bisherigen Maßstäbe zum Datenschutz geradezu peinlich.
Von der Schule gestellte Schüler*innengeräte
Darüber hinaus hat die Phase der Schulschließung auf beeindruckende Weise auch noch etwas anderes deutlich gemacht. Das Bildungssystem hat an vielen Stellen in die falsche Technik investiert und sollte diesen Fehler nicht wiederholen. Interaktive Tafeln etwa dürften ihren Ruf als teure und unflexible Lösungen gefestigt haben, die für die jetzigen Herausforderungen (und für das vernetzte Lernen der Zukunft) unzureichend sind. In vielerlei Hinsicht wären von der Schule gestellte Schüler*innengeräte die bessere Anschaffung gewesen. Derartige personalisierbare Tablets oder Laptops ermöglichen orts- und zeitunabhängiges digitales Arbeiten, können in der Schule und zu Hause eingesetzt werden und hätten auch sozial schwächeren Schüler*innen geholfen. Für zukünftige Investitionen müssen derartige Geräte meines Erachtens nach im Fokus stehen – idealerweise vom Sachaufwandsträger gestellt und durch ein zentrales Management-System verwaltet.
Das ist gleichzeitig auch ein Appell an die Politik, die über die Rahmenbedingungen des Digitalpakts entscheidet. Die Corona-Krise macht wie unter einem Brennglas deutlich, an welchen Stellen es hapert. Schulen und ihre Schüler*innen brauchen jetzt genau diese drei Dinge: Mittel für Fortbildung, Mittel zum Aufbau digitaler Lernumgebungen und Mittel für Schüler*innengeräte. Darüber hinaus halte ich den Gedanken einer „digitalen Grundsicherung“, wie er in den letzten Wochen häufiger artikuliert wurde, für eklatant wichtig, um sozial benachteiligten Familien gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Der zweite Shutdown
Angesichts der aktuellen Lage wäre es naiv, auf ein baldiges Zurück zur Normalität zu hoffen. Die Mehrzahl der Klassen wird noch viele Wochen im Fernunterricht arbeiten müssen, ebenso wie die Hygienemaßnahmen in den Schulen sicher das ganze Kalenderjahr 2020 und evtl. auch darüber hinaus gelten dürften. Da eine zweite Infektionswelle und damit verbunden auch ein zweiter Shutdown nicht ausgeschlossen werden können, sollten Schulen sich für dieses Szenario rüsten. Dafür müssen jetzt die Weichen gestellt werden, um die Arbeit im Fernunterricht, im Präsenzunterricht und in Formen des blended Learnings zu professionalisieren. Und dafür müssen in den nächsten Wochen und Monaten Geschichten des Gelingens gesammelt und verbreitet werden. Damit das Lernen allein auch in Zeiten des Abstandhaltens ein gemeinsames Lernen werden kann. Das sind wir den Schülerinnen und Schülern und deren Eltern schuldig.
Nachbemerkung
Es hat etwas Verlockendes, Schüler*innen angesichts der Bedingungen in der Schule lieber außerhalb der Schule sehen zu wollen, weil die Organisation des Lernens dort scheinbar gelungen ist. Das mag für Lehrkräfte, die die Klaviatur der Digitalität bespielen können, auch in Teilen zutreffen. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass die Schulschließung gravierende Probleme der Bildungsungerechtigkeit mit sich bringt: Schüler*innen verfügen mitunter nur über unzureichende Ausstattung, es fehlen Tagesstruktur, Rhythmus, technisches Knowhow, helfende Betreuungspersonen, manchmal ein Mittagessen, Ansprechpartner*innen und letztlich die sozialen Kontakte, die die Schule liebenswert machen. Hinzu kommt, dass nicht alle Lehrkräfte das Lernen zu Hause gleichermaßen professionell organisiert bekommen. Das alles verschärft die soziale Spaltung, unter der vor allem schwächere Schüler*innen zu leiden haben. Nie zuvor wurde so deutlich, warum es ein funktionierendes staatliches Schulsystem braucht, das diese Ungerechtigkeiten auszugleichen versucht und einen weitestgehend kostenfreien Zugang zu organisierter Bildung ermöglicht. Soweit es die Infektionszahlen der Corona-Pandemie zulassen und die Hygiene-Empfehlungen an Schulen umgesetzt werden können, halte ich es für wichtig, die Rückkehr zum gemeinsamen Schulbetrieb zu forcieren. Warum es dennoch riskant ist, habe ich im Beitrag „Schön wird es nicht, vorstellbar ist“ diskutiert.
Bildquelle: Pixabay (lizenzfrei)
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